Annett Gröschner, Wenke Seemann und Peggy Mädler gestalten die erste Lesung des Projekts KUNSTWELTEN in diesem Jahr.
Wie damals! Die Autorinnen verteilen Bowle aus Sekt, Wein und Dosenobst.
Etwa 70 Besucherinnen und Besucher waren zur Lesung in die Musik-Galerie gekommen.
Die erste Lesung 2025 im Rahmen des KUNSTWELTEN-Projekts, einer Kooperation des Landkreises Anhalt-Bitterfeld und der Akademie der Künste Berlin, unter dem Titel „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“ in der Musik-Galerie in der Goitzsche, ließ sich auch KUNSTWELTEN-Koordinatorin Anja Sachenbacher nicht entgehen. Für „Wir sind ABI“ hat sie den Abend zusammengefasst.
Vielem galt es nachzuspüren am Abend des 22. Januar 2025 in der Musik-Galerie an der Goitzsche: der Vergangenheit, der Prägung durch diese, der Zukunft. Wer nur ein heiteres Boulevard-Stück über das Klischee „Ostfrauen“ von Annett Gröschner, Wenke Seemann und Peggy Mädler erwartet hat, wurde im besten Wortsinn eines Besseren belehrt und sah sich zum Denken herausgefordert. Heiter war es trotzdem und getrunken wurde natürlich auch … Aber von vorne:
Zuerst war Stühlerücken angesagt, denn die bereit gestellten Sitzgelegenheiten reichten nicht aus, um die zahlreich erschienenen Gäste unterzubringen. Katja Münchow, Leiterin der Galerie, zeigte sich darüber sehr zufrieden, erfahrungsgemäß sei bei Lesungen etwas weniger Andrang als bei Konzerten. Vielleicht zog der Titel die ca. 70 Neugierigen an, die wissen wollten, was in trunkenen Gesprächen denn für ein idealer Staat erdacht wurde, wie es der Titel des Buches verspricht. Handlungsbedarf bestünde nach Meinung vieler allemal.
Dem Beginn der Performance der drei ostdeutschen Autorinnen voran stellten die drei ostdeutschen Gastgeberinnen Katja Münchow, Marion Neumann von der veranstaltenden Akademie der Künste Berlin und Anja Sachenbacher als Projektkoordinatorin KUNSTWELTEN der Landkreisverwaltung ein paar Worte über die bisherige Zusammenarbeit im Rahmen dieses Projektes. Seit fast 20 Jahren sind Künstlerinnen und Künstler aus Deutschland und der Welt vor Ort im Landkreis Anhalt-Bitterfeld, um mit Kindern und Jugendlichen ihre Umgebung, ihre Stadt neu zu entdecken. kreativ zu gestalten und Überlegungen für die Zukunft anzustellen. Neugier, Erfahrungsgewinn und Lebensfreude sollen durch die künstlerische Arbeit in Werkstätten geweckt werden. Es galt u.a. zu planen, zu bauen, zu musizieren, zu fotografieren, zu tanzen... Eine Menge Kunst und jede Menge stolze Kinderaugen auf das Geleistete stehen zu Buche – ein Ende hoffentlich nicht absehbar.
Heute also ein Abend für Erwachsene. Laut Marion Neumann nicht ganz ohne Hintergedanken. Demokratische Prozesse gelte es zu stärken – Viele in ABI engagieren sich dafür und ermöglichen solche Projekte wie KUNSTWELTEN. Insofern sei dieser Abend auch als eine Anerkennung dieses Engagements der Schulen und vieler weiterer Projektpartnerinnen und -partner zu verstehen.
Anmerkung der Autorin: Achtung! Im vorherigen Satz wurde gegendert. Dies zum Grundsatz machten sich mit klarer Ansage auch die drei Buch-Autorinnen. Nicht weil sie müssen, sondern weil sie wollen. Die Anerkennung der Frau als wertvolles Glied der Wertschöpfungskette war übrigens auch im weiteren Verlauf des Abends aus den Betriebszeitungen der DDR ablesbar. Dort war die Rede von fleißigen Werktätigen, von Arbeiterinnen und Arbeitern. Und schon stand man mittendrin in der Klischeepfütze über Ostfrauen: Sie sind werktätig, können anpacken, die Ostfrau kenne sich mit Technik aus, sei unprätentiös, rieche daher nach Schweiß und hat mit 22 Jahren bereits 2 Kinder. Ach ja: Sie „habe eine zu hohe Erwerbsneigung“ – aus veralteter Westsicht. Nachdenken über Vorurteile und Staatsformen, die schon in der ersten von sieben vom Verlag verordnet-durchzechten Nächten von den drei Schriftstellerinnen besprochen wurden. Mal traf man sich in der Wohnung einer der Diskutanten, mal im Randgebiet Berlins. (Fast) Immer gab es Alkohol.
Um den Schweiß der starken Arbeiterin zu übertünchen, wurde damals wie am Veranstaltungsabend reichlich „Action“-Deospray (richtig! das Original in rosa) versprüht. Was bei Manchen Naserümpfen, bei Anderen tiefe Inhalation, aber bei Allen ein wissendes Lächeln hervorrief.
Zur Musik von Joni Mitchell wurde die zuvor angesetzte Bowle aus Sekt, Wein und Dosenobst verteilt. Das zusätzlich zum Auffüllen bereit gestellte Mineralwasser blieb auf Wunsch des Publikums unangetastet. Vielleicht, um der Diskussion über Orientierungslosigkeit nach der Wende, der enormen Aufwertung von Privateigentum und dem daraus folgenden Kassensturz der veränderten Eigentumsverhältnisse wenigstens Dosenmandarinen und Rotkäppchensekt entgegenzusetzen.
Die Forderungen der Wendezeit bleiben dennoch aktuell, denn auch heute ist nichts ideal. Schwarz- und Weißmalerei, auch Dogmen des Kapitalismus bringen ebenso wenig weiter wie die des Sozialismus. Kann die Theorie der nie endenden Widersprüche (Dialektik) weiterhelfen? Die Kunst sei es, diese Widersprüche auszuhalten. In der Praxis bleiben oft Überforderung und das Niedergedrücktsein von „der Schwerkraft der Verhältnisse“. Was nun? Den idealen Staat zu entwerfen, scheint Annett Gröschner, Wenke Seemann und Peggy Mädler doch zu größenwahnsinnig. Die DDR war es auf jeden Fall nicht. Dabei wollen sie seit ihrem Fall eigentlich lieber Weltbürgerinnen sein und werden doch als ostdeutsch stigmatisiert. Versöhnlich damit stimmt die Autorinnen ein Zitat aus dem „Freitag“: „Der Osten in mir ist solidarisch und zärtlich“. Ohne das Dunkle, das Abschließende und Abgründige zu vergessen.
Viel Applaus folgt. Einige Bücher werden verkauft und signiert und nicht nur das bleibt übrig von diesem Abend. Auch die Lust mit anderen Frauen und auch Männern darüber weiterzuquatschen, Heiterkeit, Nachdenken und ein restlos leeres Bowleglas.