„Der Nächste bitte…!“ Das kennen wir alle aus Wartezimmern von Arztpraxis und Poliklinik. Diese Aufforderung zum Eintreten erlöste manch eine/n von uns aus der schier unendlichen Geduld der Menge und mutete zugleich als individuell getaktete Vorladung an. Alles war gut geordnet gar über Jahrzehnte. Gerade auch unser Brand-Erbisdorf zehrte - als seit 1952 ehemals bestehende Kreisstadt und als heutiges Grundzentrum - vom damals staatlich gelenkten Gesundheitssystem und dem Engagement hier zahlreich praktizierender Ärzteschaft. In neuer Zeit wacht die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen (KV Sachsen) als dafür zuständige Körperschaft des öffentlichen Rechts über die medizinische Versorgung hierzulande.
Doch Zeiten ändern sich. Die Ärztesituation erregt die Gemüter, Tendenz steigend. Kaum jemand ist mehr richtig zufrieden, weil flächendeckend Arztpraxen schließen, weil es viel zu lange Wartezeiten für Facharzttermine gibt oder scheinbar gar keine Hausärzteversorgung mehr vorhanden ist! Sogar die Angst um Sachsens Kliniken geht um.
In Brand-Erbisdorf samt den Ortsteilen hatten wir ansässige Ärzteschaft folgender neun Tätigkeitsfelder (Stand März 2023): 3x Allgemeinmedizin/Praktischer Arzt, 3x Innere Medizin, 2x Augenmedizin, 2x Chirurgie, 1x Frauenheilkunde, 1x Haut- und Geschlechtsheilkunde, 1x Kinderärztin, 1x Tierärztin, 8x Zahnheilkunde.
Um die Situation möglichst zu verbessern wurde ich kürzlich bei der KV Sachsen (Bezirksgeschäftsstelle Chemnitz) vorstellig, um persönlich auf Sorgen der Bürgerschaft und aktuelle Defizite im Ort hinzuweisen und künftige Entwicklungen in Erfahrung zu bringen. Viel Statistik ist dabei im Spiel. Wirkte die seit 1993 laufende Bedarfsplanung ebenjener Behörde sachgerecht, mittels gesperrten Planungsbereichen aber durchaus beschränkend, so sind die Planungsbereiche (diese sollten stetig einen hausärztlichen Versorgungsgrad von reichlich 80 % gewährleisten!) mittlerweile nun offen! Ärzte und Psychotherapeuten müssen jetzt nicht mehr auf eine frei werdende Praxis warten, um eine Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung zu erhalten. Sie können sowohl eine neue Praxis gründen als auch eine alte übernehmen oder in eine Gemeinschaftspraxis einsteigen. Sachsenweit existieren dennoch tatsächlich etwa 400 unbesetzte Hausarztstellen! Offenbar hat leider das Berufsbild „Hausärztin/Hausarzt“ ein Flächenproblem.
Der Versorgungsgrad einer Region wird ermittelt, indem zwischen dem Ist-Niveau des tatsächlichen Einwohner-Arzt-Verhältnisses und dem Soll-Niveau der Verhältniszahl verglichen wird. Der Versorgungsgrad wird in Prozent ausgedrückt und genutzt, um die Versorgung in einer Region zu bewerten. Für uns ist dabei die aus fünf Kommunen zusammengesetzte Bezugsregion „Mittelbereich Freiberg“ maßgebend, die folgende Versorgungsgrade offenbart: BED 92,0 %, Oederan 83,9 %, Freiberg 81,3 %, Frauenstein 80,3 % sowie Flöha 76,5 %. Frappierendes und rein rechnerisches Ergebnis ist, dass Brand-Erbisdorf bezogen auf die Einwohnerschaft momentan noch am besten aufgestellt sei, kaum zu glauben (doch zu akzeptieren)! Klar formuliert: es muss erst gefühlt noch schlechter werden, bevor aktiv für BED alle Register der Förderung gezogen werden.
Die Förderinstrumente der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen, um (Haus-)Ärzteschaft möglichst flächendeckend in die Region zu „locken“ oder hier zu binden, sind vielfältig und erscheinen zumindest uns Außenstehenden finanziell (bis in den sechsstelligen EURO-Bereich) echt attraktiv – nämlich per Prämien bei privater Praxis-Niederlassung für mindestens fünf Jahre zzgl. zeitlich gestaffelter „Umsatzrendite“, mittels auskömmlicher Förderstipendien für angehende Mediziner/innen, respektable Umschulungs- bzw. Weiterbildungsprämien für Fachärzte bei deren Quereinstieg zum Hausarzt oder sogenannte Haltepauschalen für Ärzte über 65! Nun ja, es besteht für uns als Patienten freie Arztwahl – genauso sind Ärztinnen und Ärzte frei in ihrer Berufsausübung, wo und wie lang sie eben selbst wollen. Und neuerdings sogar unabhängiger denn je vom Regulierungsgeschehen der KV Sachsen.
Die Handlungsweise der Kommune (und damit auch meine als OB!) ist diesbezüglich begrenzt. Bislang jedenfalls haben die seit etwa drei Jahren geführten Diskussionen im Brand-Erbisdorfer Stadtrat meist dazu geführt, der Ärzteschaft (als zwar beachtenswerter jedoch keineswegs expliziter Berufsgruppe) generell keine zusätzlichen finanziellen oder sachwertbezogenen Anreize zu gewähren. Mein OB-Schreiben im Jahr 2021 an die bei uns tätigen, damals 26 Mediziner/innen zwecks Erkundigung und Gesprächsangebot zur Erörterung von Problemen hatte, abgesehen von 4 interessanten Einzelgesprächen, leider keine weitere Resonanz gefunden. Über eventuell bestehenden Bedarf hüllte sich Schweigen …
Mittlerweile hat es aufgrund von Bereitstellung/Verkauf von Grundstücken zumindest bei zwei Standorten geklappt: mit neu gebauter Kinderarztpraxis BED (August-Bebel-Straße) 2018 und der Weiterführung des Ärztehauses Langenau (Hofpark) 2022 samt Hoffnung auf spätere Erweiterung. Die Praxis von Dipl. Stom. Christel Jähnig (Gartenweg 8) wurde in Eigenregie ab April 2023 an Herrn Enrico Bretschneider übergeben, viel Erfolg!
Aufrüttelnd ist dennoch allgemein: im Jahr 1990 wohnten fast 4,8 Mio. Menschen in Sachsen. Für diese arbeiteten damals hier rund 12.000 Ärztinnen und Ärzte. Aktuell leben in unserem Freistaat nur noch gut 4 Mio. Einwohner/innen. Wiederum gibt es in Sachsen aber etwa 19.000 Mediziner, deutlich mehr also! Das passt deswegen gar nicht schön zusammen, weil sich die freiberufliche Ärzteschaft auf die Ballungsräume und die Spezialisierung konzentriert. Natürlich streben auch Mediziner danach, dass ihr eigenes Arbeits- und Privatleben miteinander im Gleichgewicht stehen möge („Work-Life-Balance“) und arbeiten neuerdings ohne aufwändige Bürokratie lieber als Angestellte in einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) statt in privater Niederlassung. Insofern gilt wohl tatsächlich die Feststellung, dass wir eigentlich keinen reinen Ärztemangel haben, vielmehr einen Mangel an zur Verfügung gestellter Arbeitszeit! Außerdem haben wir (nach Angaben der KV Sachsen) in Deutschland die weltweit höchste Anzahl an Arzt-Patienten-Kontakten. Die frühere Quartalsgebühr (wir erinnern uns der 10 EUR in bar, beim Zahnarzt und in der Notfallaufnahme kamen je weitere Euro hinzu!) fiel hingegen regulierend weg und führte bei freier Arztwahl letztlich zum ungesteuerten Zugang (Praxis-„Ansturm“). Und deshalb ist es eben knapp im ländlichen Raum!
Ich selbst als treu-gesetzliches Gesundheitskassenmitglied und Stadtoberhaupt maße mir nun aber keineswegs an, über medizinische Berufe zu urteilen. Geht es nach bundesdeutschem Plan, so sollen die Krankenhäuser künftig stabil und effizient drei Leistungskategorien bedienen: (1) Grundversorgung, (2) Schwerpunktversorgung und (3) Maximalversorgung. Mir wurde vermittelt, dass es für uns in Sachsen nun darauf ankommt, zumutbare Wege zu belassen oder neu zu organisieren. Klar können wir alle den Themenbereich „Zentralisierung/Spezialisierung/Regionalisierung“ neu denken, und dennoch sollten wir alle sehr dankbar sein – neben der ortsansässigen Ärzteschaft – auch für die in 78 Krankenhäusern in Sachsen geleistete Arbeit, enorm!
Interessant ist nämlich zu wissen, dass über Jahre schon im Grunde eine Verschiebung der Leistungen stattgefunden hat! Die Möglichkeiten der ambulanten Medizin sind enorm angewachsen. Geschätzte drei Viertel der früher stationären Leistungen werden heute ambulant erbracht, das heißt: in den Krankenhäusern finden aktuell nur noch gut eine Million stationäre Behandlungen statt (genau dafür gibt es aber diese Häuser!), hingegen schafft das dortige Personal mittlerweile fast 2,5 Mio. ambulante Behandlungen, Hut ab – das gleicht viel Defizit anderswo aus.
Ihnen mein herzliches Glück Auf, bitte bleiben Sie gesund!