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Amtsblatt der Stadt Bad Schandau und der Gemeinden
Ausgabe 7/2025
Stadt Bad Schandau
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Friedrich Gottlob Kellers eiserne „Kriegskasse“ – ein friedliches Rätsel aus Krippen

Solche sperrigen Eisentruhen, verstärkt mit zusätzlichen Bändern und gesichert mit einem verdeckten Schließmechanismus, sind auch als Regimentskassen, Soldtruhen und Kriegskassen bekannt. Diese Namen garantierten früher Sicherheit für deren Inhalt. Vor allem im Barockzeitalter (etwa 1650-1700) erlebte die Fertigung dieser mechanischen Spitzenleistungen der Handwerkskunst eine Blütezeit im süddeutschen Raum (Augsburg und Nürnberg). Diese technischen Raritäten faszinieren uns auch heute noch in ihrer gelungenen Einheit von Funktion und Form. Die eigentliche Schönheit einer Truhe offenbart sich erst im geöffneten Zustand. Das harmonische Zusammenspiel der Funktionsteile des Schlosses bis zur synchronen Bewegung der zahlreichen Riegel ist ein Schauspiel für die Augen. Burgen, Schlösser und Museen sind beliebte Präsentationsorte dieser einstigen Schlosserkunst.

Friedrich Gottlob Keller (1816-1895)

Der in Hainichen geborene Weber und Blattbinder F. G. Keller wurde 1843 mit seiner bahnbrechenden Erfindung des Holzschliffpapiers weltweit bekannt und damit zum Mitbegründer der modernen Papierindustrie. Er war allerdings finanziell, geschäftlich und technisch überfordert, seine Idee selbst gewinnbringend umzusetzen.

Das Schicksal verschlug F. G. Keller mit seiner Familie 1853 nach Krippen, gegenüber von Bad Schandau. Hier nahm er das Angebot des Geschäftsführers einer kleinen neugegründeten Maschinenbauwerkstatt an, die nach kurzem Bestand, nicht durch F. G. Keller verursacht, wieder aufgab. Er blieb in Krippen. Ihm gelang es, nach einem schwierigen Start Fuß zu fassen und sich seinen ursprünglichen beruflichen Kindheits- und Jugendtraum zu erfüllen, anspruchsvolle Arbeiten in Metall anzufertigen und weiterhin an den technischen Problemen seiner Zeit zu „difteln“ (=tüfteln) – teilweise zum Ärger seiner Familie, weil er sich damit zu sehr verzettelte und geschäftliche Aufgaben vernachlässigte. Aus F. G. Kellers ideenreichen Leben sind insgesamt 34 Projekte und Erfindungen bekannt.

Er profilierte sich in Krippen zu einem anerkannten „Mechanikus“ mit einer eigenen Werkstatt im 1867 erbauten Wohnhaus, mit angestelltem Gesellen und Lehrling. Sein handwerkliches Geschick und seine ausgeprägte Neigung zu technischen Neuerungen kamen ihm dabei zugute. Die Qualität seiner Erzeugnisse, vor allem Werkzeuge, besonders Messkluppen für die Forstwirtschaft und Sägewerke, sowie kleine Werkzeugmaschinen überzeugten die regionalen Kunden und sicherten ihm mit seiner Familie ein bescheidenes Auskommen.

Durch die persönlichen Kontakte der Krippener Tischlerfamilie Fleischer zu der befreundeten Familie Keller wechselte die oben genannte Truhe nach Kellers Tod in den Fleischerschen Besitz über und damit in die Erbfolge Adolf Fleischer, Richard Fleischer (1879-1957), Melanie Englick (1907-1998, geb. Fleischer), Gerd Englick (geb. 1941). Daraus resultiert mein bereits frühes Interesse an F. G. Keller und auch an der Geschichte dieser Truhe, die sich etwa 150 Jahre zurückverfolgen lässt.

War diese Eisentruhe F. G. Kellers Tresor?

Sicherlich ja. Auch F. G. Keller als Privat- und Geschäftsmann hatte den berechtigten Wunsch, persönlich wertvolle Dinge und wichtige Unterlagen vor unbefugtem Zugriff sicher auzubewahren, wie das (oft wenige) Geld, die Reliquien der Holzschlifferfindung, konzipierte Ideen, Verträge, Patentschriften, Projekte, technische Zeichnungen, Schriftverkehr usw. Diese Truhe garantierte damals ausreichend Sicherheit. Die Ära der eisernen Truhen war längst vorüber. Das Industriezeitalter bot bereits eine Vielzahl moderner und erschwinglicher Tresore an.

Was bewog F. G. Keller, sich diese Uralt-Technik zuzulegen bzw. sich mit ihr zu beschäftigen?

Wir wissen es nicht. Die „Keller-Forschung“ liefert hierzu keine Anhaltspunkte. Ansatzweise könnte jedoch über folgende Fragestellungen nachgedacht werden:

Benötigte der an Technik interessierte F. G. Keller einen Tresor und erwarb diese funktionierende Eisentruhe?

Das wäre für ihn der einfachste und schnellste Weg gewesen. Von 1845-1853 lebte und arbeitete F. G. Keller mit seiner Familie in Kühnhaide (Erzgebirge). Dort hatte er eine Papiermühle gepachtet und später gekauft. Hochmotiviert und unter schwierigsten Bedingungen wollte er dort seine Erfindung produktionsreif machen und in die Liga der Papierhersteller als Unternehmer aufgenommen werden. Er scheiterte jedoch und ruinierte sich... Mit seinem Wohnortwechsel nach Krippen wäre sein Tresor, die Eisentruhe, mitgewandert.

War die Eisentruhe im Produktsortiment seiner späteren mechanischen Werkstatt?

Nein. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts verbindet sich mit dem Historismus. In dieser Zeit besann man sich auf zurückliegende Zeitepochen und kopierte viele Dinge oft nach historischen Vorlagen. Dieser Modetrend könnte auch F. G. Keller zum Nachbau der Eisentruhe angeregt haben. Die fachlichen und technischen Voraussetzungen besaß er. Die betriebswirtschaftlichen Bedingungen, wie Angebot und Nachfrage, das Kosten-Nutzen-Verhältnis, Einzel- bzw. Kleinserienfertigung, sprachen allerdings dagegen.

Erwarb F. G. Keller in seiner Krippener Zeit günstig eine defekte Eisentruhe und machte diese wieder funktionsfähig?

Das ist sehr wahrscheinlich. Neben dem Schlüsselloch befinden sich zwei größere Nietköpfe. Bei geöffnetem Deckel fallen die zwei dazu gehörenden Schraubenbolzen mit Sechskantmuttern und Feingewinde auf. Dieser technische Stilbruch erinnert bereits an das Industriezeitalter. Im Schließmechanimus sind durchweg handgefertigte Gewinde mit Vierkantmuttern zu entdecken, also Technik älteren Datums. F. G. Keller könnte hier durchaus restaurierend eingegriffen haben.

Ist diese Eisentruhe als Liebhaberstück ein kompletter (leicht veränderter) Nachbau einer historischen Vorlage oder sogar als F. G. Kellers Meisterstück zu bewerten?

Das ist nicht auszuschließen. F. G. Keller hat eine reguläre Ausbildung als Weber und Blattbinder abgeschlossen und 1839 in Hainichen das Bürger- und Meisterrecht erworben. Spätere lukrative berufliche Angebote von Gönnern und Förderern aus der Industrie lehnte er ab. Hier rächte sich seine arme soziale Herkunft, die ihm eine höhere Schulbildung mit Studium verwehrte.

Von Ausbildungen mit Abschlüssen zum Schlosser bzw. Mechaniker ist in der Literatur und in Archiven bislang nichts zu finden. Ein wissbegieriger, neue Produkte ersinnender, rastlos suchender, handwerklich talentierter und sich autodidaktisch weiterbildender gereifter Mann ohne Abschluss? Nicht denkbar. Ein Handwerksbetrieb mit Geselle und Lehrling, aber ohne Meister? Fraglich. Möglicherweise sind wichtige Unterlagen verschollen.

Auffallend ist der überraschend gute Erhaltungszustand der Eisentruhe mit ihrer störungsfrei funktionierenden Schließtechnik, der durchaus eine jüngere Datierung zulässt (Die oberflächlichen Flecken sind kein Rost, sondern eingetrocknete Ölreste). Wer auch immer dieses Exponat hergestellt hat, war jedenfalls ein Meister seines Faches, oder es ist F. G. Kellers Meisterstück ohne belegbaren Nachweis.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich als 12-jähriges Kind noch sehr gut an die Gespräche mit meinem Großvater, der als Jugendlicher den betagten F. G. Keller noch persönlich kannte. Zu der Eisentruhe erwähnte er wiederholt, dass F. G. Keller diese gebaut hat! Zur Freude der Tischlereikunden und privaten Urlaubsgäste ergänzte ich die im Hausflur präsentierte und geöffnete Truhe mit dem Schild „Friedrich Gottlob Keller baute diese Truhe“.

Die Spitzenleistung einer etwa 350 Jahre alten Eisentruhe oder eine etwa 150 Jahre alte nachempfundene Neuanfertigung beeindruckt immer wieder den interessierten Betrachter. Mit einem Leihvertrag bereicherte die Keller-Truhe das ab 1972 aufgebaute Krippener „Friedrich-Gottlob-Keller-Museum“ bis zu seiner Auflösung 2018.

Ein Gaudi für Schüler war es, das versteckte Schlüsselloch nach langem Suchen unter dem Sprungdeckel zu finden, den beeindruckenden Schlüssel im Schloss zu drehen, den Deckel zu öffnen und schließlich den hinterlassenen „Keller-Schatz“ in Form von goldenen Schokoladentalern zu heben und zu probieren – eine schöne Erinnerung an die beeindruckende schwere alte Eisentruhe.

Hinweise

Sittauer, Hans L.: Friedrich Gottlob Keller. Biographien hervorragender Naturwissenschaftler, Techniker und Mediziner, Band 59. Leipzig: Teubner Verlag, 1982.

Schlieder, Wolfgang: Der Erfinder des Holzschliffs Friedrich Gottlob Keller. Beiträge zu seinem Lebensbild aus Briefen. Leipzig: Fachbuchverlag, 1977.

Nachfragen zu dieser Thematik in der Stadtverwaltung Hainichen und in der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig

Gerd Englick