Titel Logo
Amtsblatt der Gemeinde Bennewitz
Ausgabe 12/2024
Chronikfenster
Zurück zur vorigen Seite
Zurück zur ersten Seite der aktuellen Ausgabe

Flucht und Vertreibung vor 80 Jahren

Der von den Nationalsozialisten begonnene Zweite Weltkrieg brachte in seinem Verlauf den angegriffenen Nationen Tod und Verderben, aber auch der deutschen Zivilbevölkerung unermessliches Leid. Von Oktober bis Dezember 1944, also vor 80 Jahren, kamen die ersten Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten in der Gemeinde Bennewitz an. Es waren 57 Personen aus Albrechtsfelde, Heinrichsdorf, Memel, Soldau, Widminnen und Tilsit in Ostpreußen. Die vorrückende Rote Armee, die gegen sie gerichtete NS-Gräuelpropaganda und tatsächlich von sowjetischen Soldaten verübte Gewalttaten hatten hier zu einer großen Fluchtbewegung geführt. In den folgenden Monaten zogen auch Millionen Menschen aus Schlesien und Pommern auf der Flucht nach Westen. Die Zahl der Deutschen, die infolge des Zweiten Weltkrieges ihre Heimat, ihr Zuhause verloren, wird auf 12 bis 14 Millionen geschätzt.

Millionen Menschen traten in den Wintermonaten 1944/45 bei bitterer Kälte ihre Flucht an. In manchen Fällen mit der Eisenbahn, meist aber zu Fuß oder mit Pferdefuhrwerken flohen die Menschenmassen vor der heranrückenden Front. Die sog. Trecks brauchten Wochen, nicht wenige auch bis zu einem Jahr, um an ihre endgültigen Bestimmungsorte zu gelangen. Insgesamt fanden acht Millionen Vertriebene in den westlichen Besatzungszonen Zuflucht, 4,5 Millionen in der sowjetischen Besatzungszone. Letztere machten 24,3 % der Bevölkerung aus. In der amerikanischen Besatzungszone betraf das 17,7 %, in der britischen 14,5 % und in der französischen 1 %. Eine Statistik vom Mai 1948 weist aus, dass in Sachsen 2.464.154 Umsiedler aufgenommen wurden. 75 % der Vertriebenen waren Frauen und Kinder.

In Wurzen lebten 1939 18.483 Einwohner. Am 1. Juli 1945 zählte die Stadt 37.855 Bewohner, davon 21.000 Flüchtlinge in Lagern und Privatunterkünften. Am 31. Dezember 1945 wurden 3.498 eingebürgerte Umsiedler gemeldet.

Im Kreisgebiet stellte sich die prozentuale Verteilung der Vertriebenen sehr unterschiedlich dar. Im Oktober 1945 waren im Kommandanturbezirk Falkenhain 28 % Umsiedler, Im Kommandanturbezirk Naunhof 19 %. Bach hatte zur gleichen Zeit zwei Flüchtlingshaushalte bei 26 insgesamt, Pausitz zehn von 81. Bei einer Einwohnerversammlung in Bennewitz am 1. August 1946, die von 600 Personen (!) besucht wurde, stellte der Bürgermeister fest, dass Bennewitz bereits 224, Deuben 100 und Grubnitz 26 Umsiedler aufgenommen hätte. Er kündigte an, dass in den drei Orten für weitere 640 Umsiedler Platz geschaffen werden müsse.

Die Situation nach Kriegsende verschärfte sich insbesondere durch die zerstörten Muldebrücken erheblich. Auf beiden Seiten des Flusses bildeten sich enorme Menschenstaus und so mussten auch in Bennewitz Tausende Menschen untergebracht und versorgt werden.

In der Stadt Wurzen befanden sich Übergangslager, die die Weiterleitung der Flüchtlingsströme gewährleisten sollten, eins im Gasthof „Schweizergarten“, eins im Gewerkschaftsheim und eins am Domplatz, dazu noch eins in Lüptitz. Ein weiteres wurde Anfang 1946 im Ringfedernwerk eingerichtet. Bis Ende Februar 1946 durchliefen 313.700 Vertriebene aus den Ostgebieten und dem Sudetenland diese Lager. Das in Bennewitz befindliche Lager wurde Anfang 1946 aufgelöst.

Abb. Telegramm zur Auflösung von Umsiedlerlagern, Februar 1946

Ein überliefertes Meldebuch von Bennewitz (mit Schmölen), das auch die An- und Abmeldungen der Kriegsjahre enthält, gibt Informationen über die Anzahl und Herkunft der angekommenen Flüchtlinge bzw. Vertriebenen. Von Oktober 1944 bis April 1945 wurden hier insgesamt 300 angekommene Flüchtlinge gemeldet. Nach den 1944 eingetroffenen Flüchtlingen aus Ostpreußen erreichten im Januar 1945 55 Personen aus den Kreisen Groß-Strehlitz und Gleiwitz in Oberschlesien die Gemeinde. Im Februar folgten ihnen 163 Flüchtlinge aus Ober- und Niederschlesien sowie Pommern. Davon kamen 94 allein aus dem Kreis Militsch-Trachenberg, aus den Orten Hochrode, Niederrode und Wensewitz.

Für die Stadt Militsch war der Räumungsbefehl am 18. Januar 1945 erteilt worden. Einen Tag später begann die Flucht. Während die Stadtbevölkerung mit der Bahn und Lastwagen transportiert wurde, flüchtete die Landbevölkerung mit Pferdewagen. Es ging Richtung Liegnitz, dann nach Görlitz und bis nach Zittau. Das vorgegebene Ziel waren die Kreise Grimma, Borna und Rochlitz. Dorthin gelangten die Trecks über Neugersdorf, Stolpen, Radeberg und Meißen. Insgesamt kamen ca. 40.000 Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Kreis Militsch-Trachenberg in die genannten drei Kreise. Nach der deutschen Kapitulation versuchte ein Teil der Geflüchteten, in ihre Heimat zurückzukehren, was aber mit einer endgültigen Ausweisung durch die polnischen Behörden endete.

Die Bedingungen für die Aufnahme so vieler Menschen waren alles andere als gut. Bereits die Versorgung der einheimischen Bevölkerung war kaum abzusichern. Die prekäre Wohnungssituation tat ein Übriges. Eine zentrale Aufgabe der Behörden war deshalb die Beschaffung von Wohnraum, Hausrat und Arbeit für die nun Umsiedler genannten Vertriebenen. Das war auch die Voraussetzung für ihre Integration. Kredite sollten beim Aufbau einer neuen Existenz helfen. Manche Vertriebene übernahmen auch Neubauernstellen. In Sachsen erhielten bei der Bodenreform 7.776 „Neubürger“ insgesamt 50.000 ha Land. Bei der Enteignung des Rittergutes Schmölen bekamen 17 Personen, vor allem Umsiedler, jeweils 6 ha Land und 2 ha Wald.

Nicht nur auf Grund der Versorgungsnöte auf allen Gebieten gestaltete sich die Integration schwierig und langwierig. Ungeachtet der realen Situation propagierte die politische Führung aber bereits 1952/53 die erfolgreiche Lösung des Umsiedlerproblems.

Etwa zwei Drittel der Bewohner des Kreises Militsch-Trachenberg waren nach Kriegsende auf dem Gebiet der späteren DDR untergekommen. Für sie ergaben sich nach der Wende 1989 neue Möglichkeiten, mit den in den westlichen Bundesländern angesiedelten ehemaligen Kreisbewohnern zusammenzutreffen. So fand 1997 auch ein Treffen in Bennewitz statt.

2012 wurde eine in Kooperation des Kreismuseums Grimma mit dem Gymnasium St. Augustin erarbeitete Präsentation „Flucht, Vertreibung, Integration“ eröffnet. Die dazu erstellten Texte sind online aktuell noch einsehbar: https://museum-grimma.de/flucht-vertreibung-integration/

Quellen: Staatsarchiv Leipzig, Museum Grimma

Volker Jäger