Ich möchte in dieser und den zwei folgenden Ausgaben des Landboten versuchen, Ihnen liebe Leser, das Märchen von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) etwas näher zu bringen.
Die meisten von Ihnen werden schon mal im Turmsaal der „Schönen Höhe“ gestanden und die Fresken an den Wänden bewundert haben. „Gegrüßet seid mir edle Herren, gegrüßt ihr schöne Damen“ lässt Goethe seinen Sänger in der gleichnamigen Ballade sprechen. In Goethes Faust singt Gretchen das Lied vom „König in Thule“. Reflektierend auf das Leben grüßt der Ritter im „Geistesgruß“. Einander an den Schmalseiten des Turmsaales zugewandt, haben wir einerseits das Fresko zu Goethes Fischer (Halb zog sie ihn, halb sank er hin“), in dem die liebliche Seite der Natur dargestellt ist und andererseits die Darstellung einer Szene aus der Ballade vom Erlkönig, die eher die dämonische Seite der Natur zeigt. Vielen unserer Besucher sind die Gedichte bzw. Balladen bestenfalls vom Namen her bekannt. Auch, wenn einzelne Besucher meinen, im Fresko von Goethes Erlkönig den Schimmelreiter von Theodor Storm (1817-1888) zu erkennen, ist es doch die bekannteste der Balladen im Raum, denn viele haben diese („Wer reitet so spät durch Nacht und Wind…“) in der Schule gelernt. Besucher, denen das Märchen bzw. dessen Darstellung im Bild über der südlichen Eingangstür etwas sagt, kann ich wohl an einer Hand abzählen. Ich möchte mich deshalb diesem – zugegebenermaßen schwierigen Thema – etwas näher widmen.
Der Sturm auf die Bastille im Jahr 1789 gilt als der Beginn der Französischen Revolution. Während Goethe den Krieg im Allgemeinen und die Französische Revolution im Speziellen verabscheute und es hasste, sich für eine Seite entscheiden zu müssen („Die Leute wollen immer, ich soll auch Partei nehmen, nun gut, ich steh` auf meiner Seite“) war der jüngere Friedrich Schiller (1759-1805) anfangs begeistert. Unter dem Eindruck der Hinrichtung von zehntausenden Franzosen, kam er zu der Erkenntnis, dass die Revolution zu zeitig stattgefunden hatte, die Menschheit einfach noch nicht fortgeschritten genug sei. Unter diesem Eindruck gründete Schiller Die Horen, eine Zeitschrift, mit dem ausdrücklichen Ziel, jegliche politische Diskussion zu vermeiden. (Schiller: „…vorzüglich aber und unbedingt wird sie sich alles verbieten, was sich auf Staatsreligion und politische Verfassung bezieht“) Benannt ist sie nach den griechischen Göttinnen der Jahreszeiten, der Gerechtigkeit und der Schönheit und Ordnung Horae. Kunst, Kultur, Philosophie und Poesie sollten der zentrale Inhalt sein. Die Zeitschrift sollte der „freundlichen Zerstreuung“ dienen und sollte das Beste der deutschen Kultur vereinigen. Sie erschien in den Jahren 1795 bis 1797 in jeweils 12 Ausgaben. Bereits 1795 erschien ein Novellenzyklus von Goethe unter dem Titel Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Es handelt sich dabei um eine Rahmenhandlung, in die sieben Binnenhandlungen eingebettet sind. Die Rahmenhandlung schildert Gespräche im Hause einer „Baronin von C.“, die mit Familie, Freunden und Verwandten aus dem linksrheinischen deutschen Gebiet vor der französischen Revolutionsarmee fliehen musste. In der Emigrantengruppe spiegeln sich die Spannungen der Zeit zwischen Bewahrung des Alten und Aufbruch zu Neuem wider. Nachdem die Situation eskaliert, einigt man sich, in den Unterhaltungen die Gegenwart auszuschließen. An den zwei folgenden Tagen werden zwei Gespenstergeschichten, zwei Anekdoten, zwei moralische Erzählungen und das Märchen vorgetragen. Das Kunstmärchen ist Teil des 10. Stückes der Horen aus dem Jahr 1795.
In der nächsten Ausgabe des Landboten werde ich versuchen, Ihnen, liebe Leser, den sehr komplexen Text des Märchens näher zu bringen. Anschließend werde ich Ihnen einige Interpretationsansätze vorstellen. Die RICHTIGE Interpretation wird es nicht geben. Zu viele Autoren haben versucht, sich der Thematik zu nähern …