Am Sonntag, dem 09.07.2023 eröffnete pünktlich 6:30 Uhr in Sölden der traditionelle Kanonenschuss die 42. Ausgabe des Ötztaler Radmarathons. 227 Kilometer und 5500 Höhenmeter über vier Alpenpässe in Tirol: Kühtai, Brenner, Jaufenpass und der 27 Kilometer lange Schlussanstieg zum Timmelsjoch - das ist der Ötztaler Radmarathon.
Der „Ötztaler“ ist unter den Fahrern ein Mythos, er ist Freud und Leid zugleich, positive Emotionen aber auch schmerzhafte Erfahrungen, er ist warm, aber auch kalt, Sonne, aber auch Regen. Dieses Jahr erwartete er die Fahrer mit Hitze. Von 4.337 Starterinnen und Startern (4.014 Männer und 322 Frauen) haben 3.869 der Hitze getrotzt und den Weg ins Ziel nach Sölden zurückgefunden. Sie alle dürfen sich über das prestigeträchtige Finishertrikot des Ötztalers freuen – so auch Andreas Hönisch vom Sun-Sport-Team, welcher erst 14 Tage zuvor den Dreiländergiro in Nauders absolvierte und nun das bereits 6. Mal in Sölden an den Start ging.
Tausende Zuschauer säumen den Straßenrand, klatschen, jubeln und schwingen Kuhglocken. Eine lange Abfahrt das Ötztal hinunter müssen die Teilnehmer zunächst „überstehen“, bevor sie endlich klettern dürfen. Der Kreisverkehr in Oetz läutet den ersten Anstieg des Tages zum Kühtai ein. Einen Höhenunterschied von 1237 m gilt es auf 17,6 km Länge bei durchschnittlich 7,0 % zu bewältigen. Das reichhaltige Frühstück, die frischen Beine und die angenehmen Temperaturen lassen diese Auffahrt noch angenehm erscheinen. Es ist unglaublich toll, wie viele Menschen auch hier wieder den Fahrern ein Stückchen Tour de France Feeling vermitteln – Wahnsinn!
Ganz anders zu fahren - der Brenner. Direkt unterhalb der legendären Bergisel Skisprungschanze beginnend müssen die Teilnehmer auf 38 km 777 Hm erklimmen. Das klingt unspektakulär, aber die Erfahrenen berichten unisono, dass man den „Ötzi“ am Brenner nicht gewinnen, gleichwohl aber verlieren kann. Wer hier zu viel investiert, zu viel Körner verschießt, bereut das aller spätestens am letzten Anstieg – dem Timmelsjoch. Am Brenner gibt es die 2. von insgesamt 5 Labestationen, die an der Strecke verteilt sind. Wasser, isotonische Getränke, Red Bull, Schnittchen, Gels und Riegel, Bananen, Laugengebäck, etwas Süßes, alles, was das Radfahrerherz begehrt.
Weiter in Sterzing wird es nun ernst. Der Jaufenpass erwartet die Fahrerinnen und Fahrer mit einer Länge von 15 km und 1146 Hm bei durchschnittlich 7,6 %. 30 Grad im Schatten und keine Wolken. 140 km haben die Teilnehmer jetzt schon in den Beinen. Der „Jaufen“ ist im Vergleich zum Kühtai und zum Timmelsjoch allerdings der „Schönste“. Viel Schatten, keine steilen Rampen und sehr rhythmisch zu fahren, da sich die Steigungsprozente stets zwischen 6 und 9 % bewegen. Kurz vor der Passhöhe befindet sich die nächste Labestation, an deren Wasserhähnen der größte Andrang herrscht.
Über die Passhöhe drüber geht es nun bei herrlichstem Sonnenschein in die schönste Abfahrt des Tages. Die gesamte Strecke ist für den Autoverkehr gesperrt, so dass die von Kurven und Serpentinen gespickte Abfahrt hinunter nach St. Leonhard auf der Ideallinie genommen werden kann. Je rasanter es allerdings nach unten geht, desto schneller steigen die Temperaturwerte. Diverse Radcomputer haben hier Werte von 40 Grad und mehr angezeigt und so fühlte es sich auch an – das „Dead Valley“ Südtirols an diesem Tag. 175 km sind bereits absolviert und nur noch knapp 52 km bis ins Ziel nach Sölden – wäre da nicht das Timmelsjoch mit seinen 29 langen km und 1724 Hm bei 6,3 %. Gleich nach St. Leonhard geht es ans Eingemachte. Mit Streckenabschnitten von mehr als 10 % wird den Teilnehmern noch einmal alles abverlangt. In Moos warten einige Anwohner am Straßenrand und bieten den Leidenden eine Abkühlung aus dem Gartenschlauch an oder kippen einen Becher mit Wasser in den Nacken. Auf der Hälfte des Anstiegs können sich die Teilnehmer an der letzten Labestation nochmals stärken und mit Wasser abkühlen, bevor es die letzten 11 km und 750 Hm hinauf geht.
Der Mensch ist zu vielem fähig, er kann viel ertragen, viel leiden, aber auch leisten und so quälen sich viele die letzten Kilometer hinauf. Das Zusammenspiel zwischen Kraft in den Beinen und Fitness im Kopf klappt am Timmelsjoch bei vielen unter diesen Bedingungen nicht mehr wie erhofft. Auf der gesamten Auffahrt zum Timmelsjoch sah man Fahrer am Rand stehen, ausruhen, die Gedanken und die Kräfte sammeln, sich dehnen, langsam das Fahrrad nach oben schiebend, leere Gesichter blickten den Berg hinauf oder schnieften zwischen ihren Lenkern. Gnadenlos schlägt der Ötztaler am Timmelsjoch zu. Diese Grenzerfahrungen muss man freilich nicht machen, kann man aber. Sie dient schließlich dem Kennenlernen der eigenen Leistungs- und Leidensfähgkeit des Körpers.
Mit 10:32 h erreichte Andreas Hönisch auf Platz 1.640 unter demselben Applaus das Ziel, wie der Sieger in der Männerwertung mit 6:49 h, die Siegerin bei den Frauen mit 7:27 h aber auch wie der letzte Teilnehmer nach fast 14 h Fahrtzeit. Es ist und bleibt ein Mythos, der Ötztaler Radmarathon. „Nie wieder“ schwören sich viele am Timmelsjoch, doch spätestens auf der Rückfahrt aus Sölden heraus kommen die meisten erneut ins Schwärmen und sind der Meinung, dass es am Ende doch irgendwie schön war. An diesem Sinneswandel maßgeblichen Anteil haben sowohl das Team rund um die gesamte Organisation des Events, die auf höchstprofessionellem Niveau agieren und die tausenden Zuschauer, die stundenlang an der Strecke ausharren, warten, schwitzen, frieren, applaudieren, anfeuern und so dieses Event zu einem Gänsehauterlebnis werden lassen.