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Neisse-Echo - Amtsblatt für die Stadt Guben und die Gemeinde Schenkendöbern
Ausgabe 8/2023
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Talk ohne Show

In Erzählsalons finden Gemeinschaften zu sich selbst und Menschen hören einander wieder zu. Das Konzept erfährt viel Lob, aber zu wenig Beachtung.

Ein Bündel lebensbedrohlicher Krisen hält die Welt in Atem und setzt Zentrifugalkräfte frei, die unsere Gesellschaft besorgniserregend auseinanderdriften lassen. Dieses dringliche Dauerthema scheint vor allem Hilflosigkeit zu erzeugen. In einer ARD-Themenwoche wird ratlos das „WIR gesucht“ und in Kommunen und Politikerbüros landauf, landab nach Veranstaltungsformaten, die Menschen überhaupt erst einmal zusammenbringen, anstatt sie zu entzweien.

Wer einmal bei einem Erzählsalon dabei war, weiß: Es gibt so ein Format. Es ist ebenso fruchtbar wie unter dem Radar einer breiteren Öffentlichkeit geblieben. Seit über zwanzig Jahren organisiert und konzipiert Katrin Rohnstock solche Zusammenkünfte. Ihre Firma Rohnstock Biografien erhielt dafür Fördergelder und Auszeichnungen. Die Erzählsalons seien „besonders geeignet, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken“, so der frühere Ost-Beauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, der in seiner Amtszeit zwei große Erzählprojekte förderte: ein analoges mit Handwerkerinnen und Handwerkern aus Thüringen und Sachsen sowie während der Corona-Pandemie ein digitales zu „30 Jahre Deutsche Einheit“.

Nun erhält das Konzept sogar wissenschaftliche Weihen. In Kooperation mit der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg (BTU) wurde Rohnstock Biografien für das Projekt Altersinnovationen ins Boot geholt, das den massiven demografischen Wandel in der Lausitz gestalten soll. Im Fokus stehen die Städte Guben und Spremberg/Grodk, in denen die Verwerfungen dieses Strukturwandels - der mit einem haarsträubenden Kahlschlag nach der Wende, Massenarbeitslosigkeit und Abwanderung in großem Stil begann - viele Menschen hart trafen.

Für die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der BTU erwiesen sich die Salons als unersetzliche Quelle empirischer Datenerhebung. Sie „vertiefen das Wissen über die Bedeutung der Erfahrungen aus der Bewältigung des Strukturbruchs als Ressource oder als Hindernis für die Auseinandersetzung mit den aktuellen Fragen“, schreibt BTU-Professorin Heike Jacobsen. „Entstanden ist ein beeindruckendes Panorama nebeneinander verlaufender und teils sich kreuzender Lebenswege, die das Zusammenleben in einer Stadt widerspiegeln und einen Eindruck von ihren künftigen Möglichkeiten vermitteln.“

Viel Lob für das Konzept also – wie genau sieht das nun in der Praxis aus? Jüngst boten je drei Erzählsalons in Guben und in Spremberg/Grodk Einwohnern die Möglichkeit, zusammenzukommen und den Erfahrungsschatz zu heben, der sich im Zuge tiefgreifender Transformationsprozesse vor Ort gebildet hat. Die Geschichten sämtlicher Erzähler wurden aufgezeichnet, um später verschriftlicht und publiziert zu werden.

In Guben nahm unter anderem Bürgermeister Fred Mahro teil und sah seine Erwartungen übertroffen. „Es ist noch nie passiert, dass ich an einer Veranstaltung mit Gubener Bürgern teilgenommen habe und über zweieinhalb Stunden, nicht mindestens zehnmal dafür heruntergeputzt worden bin, was ich als Bürgermeister alles falsch gemacht habe - das passierte hier nicht“, sagte Mahro. „Der Erzählsalon scheint wirklich ein Format zu sein, das individuelle Perspektiven zutage fördert und nicht Schuldige sucht.“

So offen sein zu können, ist ein spezifisches Potenzial von Erzählsalons, das in deren einfacher und strenger Struktur begründet liegt: Sie geben jedem Erzähler Raum für seine Geschichte, die weder diskutiert noch kommentiert wird.

„Erzählen beruht auf Vertrauen und Empathie, das ist völlig anders als in einer Diskussionsrunde“, erläutert Katrin Rohnstock das Salonkonzept. „Beim kollektiven Erzählen suchen wir Gemeinsamkeiten, in einem Erzählsalon kann man hautnah erleben, wie Menschen Brücken zueinander bauen.“ Seit rund zehn Jahren haben die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Rohnstock und ihr Team Hunderte von Erzählsalons geleitet, in Unternehmen, Bibliotheken, Museen, Ministerien oder Vereinen. Ihr Knowhow zum Themenkomplex Erzählen-Erinnern-Gedächtnis wuchs schon wesentlich länger. Seit 25 führen sie lange lebensgeschichtliche Interviews, um Lebens-, Familien- und Firmengeschichten aufzuschreiben.

Ergebnis der Lausitzer Erzählsalons sind hochinteressante Berichte, in denen die häufig überhörten Erfahrungen Ostdeutscher während der Wende im Zentrum stehen. Drei Jahrzehnte dauerte es, bis die damals erlangten Kompetenzen der Ostdeutschen nicht mehr als irrelevant abgetan, sondern im Gegenteil als wichtige Ressource einer Gesellschaft wahrgenommen werden, der weitere Transformationsprozesse bevorstehen. Eben weil diese Erfahrungen so wertvoll sind, wurden sie von Rohnstock Biografien verschriftlicht und in Broschüren und Büchern publiziert. Das Buch gibt es digital auf www.guben.de unter Leben & Wohnen – Soziales – Altersinnovationen.

Sebastian Blottner, ROHNSTOCK BIOGRAFIEN