„Die letzte Fahrt“ in der Heinsdorfer Straße in Reichenbach, Sammlung Werner Nitzschke
Am Endbahnhof in Oberheinsdorf wird umgespannt und die Rückfahrt nach Reichenbach vorbereitet, Foto: Willy Rasewski
Von Karl-Heinz Meyer
Die enorm steigende Industrialisierung in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts forderte förmlich die ständige Verbesserung und Ausweitung der Transportmöglichkeiten für die sich entwickelnden Unter-nehmen heraus. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes war auch in Sachsen zügig voran geschritten. Auch Reichenbach hatte sich zu einem echten Knotenpunkt der Industrie entwickelt. In der näheren Umgebung waren viele Industriebetriebe (vor allem Textilbetriebe) ansässig geworden und hatten ihre Produktion ständig erhöht. Durch die immens gesteigerten Frachtaufkommen wuchs das Bedürfnis nach besseren Transportmöglichkeiten. Da viele Betriebe im unteren Teil der Stadt Reichenbach, in Mylau und entlang des Raumbaches in Richtung Oberheinsdorf standen, wurden nach langwierigen Verhandlungen von 1892 bis 1895 die Eisenbahnlinien Reichenbach oberer Bahnhof - Mylau und 1902 Reichenbach unterer Bahnhof - Oberheinsdorf gebaut. Letztere Strecke wurde als Industriebahn in Schmalspur (1000-mm-Spur) errichtet. Jedoch hegte die Bevölkerung in Reichenbach und im Heinsdorfer Grund schon vor der Streckeneröffnung der Industriebahn 1902 den Wunsch, auch den Personenverkehr einzuführen. Seitens der Stadt Reichenbach wurde dieser Wunsch mehrfach an die Staatseisenbahn herangetragen, zunächst leider ohne Erfolg – die Kosten seien zu hoch. Erst nach fast sieben Jahren wurde dem Druck der Vogtländer nachgegeben. Vierachsige Schmalspur-Güterwagen, die bereits 1902 zur Verfügung gestellt worden waren, aber nicht benötigt wurden, konnten zu Personenwagen umgebaut werden.
Am 01. Oktober 1909 um 5.45 Uhr sollte dann endlich der Personenverkehr starten.
Nach einer 15-minütiger Verspätung rollte der von der Bevölkerung lang erwartete Zug vom unteren Bahnhof los und passierte in der nächsten halben Stunde die festgelegten sechs Haltestellen bis zum Endbahnhof in Oberheinsdorf. „Die Straße von der Altstadt hinaus an das Stadtende war besetzt von harrenden Personengruppen … um den wichtigsten Vorgang dieses Tages mit zu durchleben“.
An den Haltestellen versuchten immer wieder Bürger den schon vollbesetzten Zug zu besteigen um die Eröffnungsfahrt hautnah mit zu erleben. Die gesamte Strecke von Unterheinsdorf bis Oberheinsdorf war reichlich geschmückt. In Oberheinsdorf angekommen, wurde die Lok für die Rückfahrt umgespannt, die auf gleiche Begeisterung stieß. Diese Begeisterung des Eröffnungstages blieb lange erhalten. Die Personenbeförderung mit der Rollbockbahn erfreute sich auch Jahre später noch immer großer Beliebtheit. Die Bahn brachte die Schüler aus dem Heinsdorfer Grund in die Reichenbacher Schulen. Die Bauern transportierten ihre Erzeugnisse zum Reichenbacher Markt. Die städtischen Bürger nutzten die Bahn zu Ausflügen nach Heinsdorf und die angrenzenden Waldgebiete. Die Bahnstrecke erfuhr durch den Personenverkehr eine beeindruckende Aufwertung. Das Besondere in dem Personenwagen war die Sitzanordnung. Es gab auf jeder Fensterseite eine lange Bank auf welcher zirka 10 bis 12 Fahrgäste Platz fanden. In der Mitte, links und rechts vom Kanonenofen, war Platz für Hand- und Kinderwagen, Tragkörbe und andere sperrige Gegenstände. Die Reisenden saßen sich gegenüber und konnten täglich neueste Geschehnisse austauschen. Die Wagen holperten über die Schienenstöße, was einfach dazu gehörte. Die Geschwindigkeit des Zuges war auch mehr von gemütlicher Art. In der Reichenbacher Altstadt zum Beispiel fuhr der Zug selten schneller als zehn Stundenkilometer. Ja, es kam sogar vor, dass Schüler mit kurzen geschwinden Schritten am letzten Wagen auf- und auch wieder abgesprungen sind. Das gab natürlich Ärger mit dem Bahnpersonal. Wenn auch die Bahn nicht an Anschlusszüge und an ganz genaue Abfahrtzeiten gebunden war, wusste das Personal im Wesentlichen, wer da täglich zu bestimmten Zeiten mitfuhr. So kam es auch schon vor, dass man auf einen Säumigen noch ein wenig gewartet hatte.
Die Bürger, die diese Fahrten mit erlebt hatten, erzählen noch heute einige solcher Geschichten. „De Rollbock“, wie sie im Volksmund genannt wurde, war halt bei jung und alt beliebt. Um so trauriger empfanden die Bürger dann die Zeit als der Personenverkehr eingestellt wurde. Mit dem Aufleben des Autoverkehrs, vor allem in Reichenbachs engen Straßen, sowie dem steigenden Durchgangsverkehr wurde besonders die Reichsstraße zu einem Nadelöhr. Im November 1957 wurde deshalb der Personenverkehr mit der Rollbock eingestellt und auf Omnibusse des Kraftverkehrs umgeleitet. So kam es dann am 16. November 1957 um 18.47 Uhr zur letzten Fahrt des Zuges P 2208 von Oberheinsdorf nach Reichenbach unterer Bahnhof.
Die nun nicht mehr benötigten Personenwagen kamen dann noch bis 1964 in Barth (Nähe Rostock) zum Einsatz, bevor sie ausgesondert wurden. Durch einen glücklichen Umstand fand der Buchautor und Eisenbahnspezialist Joachim Schulz aus Dresden während seines Urlaubsaufenthaltes 2002 in einem Gartengrundstück in Güsen bei Magdeburg einen solchen als Schuppen benutzten ehemaligen Personenwagen der Rollbockbahn. Der Traditionsverein Rollbockbahn e.V. erhielt davon Nachricht, barg die Reste des Wagens und brachten ihn zum BVO nach Marienberg. Dort wurde er restauriert und in seinen Originalzustand wieder hergestellt. Seit Oktober 2006 ist er nun eine Attraktion im Areal des Traditionsvereins Rollbockbahn e.V. in Oberheinsdorf. Seit 2009 können auf Wunsch durch das Standesamt Reichenbach sogar Trauungen vollzogen. Seitdem haben sich 63 Hochzeitspaare ihr Ja-Wort gegeben.
Vor 115 Jahren hat unsere gute alte „Bimmelbah“ mit dem Personentransport begonnen. Über 48 Jahre begeisterte sie unzählige Fahrgäste. Wenn bei den Öffnungszeiten unseres Depots in Oberheinsdorf ältere Besucher den schmucken Personenwagen betreten, in dem sie bis in die fünfziger Jahre mitgefahren sind, dann kommen ihre alten Geschichten zum Vorschein. Einigen steht auch gleich einmal eine Träne im Auge. Dann meinen sie: „... was war das für eine gemütliche Zeit.… und wir hätten nie gedacht das wir hier, auf den gewohnten Plätzen, auf welchem wir jeden Tag zur Schule oder zur Arbeit gefahren sind, noch einmal sitzen dürfen“. Viele dieser Gäste bedanken sich von Herzen bei den Fans vom Traditionsverein Rollbockbahn, die dieses einmalige Schmuckstück mit ihrem Wirken in ungezählten Einsatzstunden aufrecht erhalten, hüten und bewahren.
Quellen:
| • | Auszug aus „Die Rollbock – 1909 begann der Personenverkehr …“ aus „Neue Geschichten aus Reichenbach und Umgebung“, 2019 von Karl-Heinz Meyer |
| • | „Reichenbacher Tagesblatt und Anzeiger“ vom 02. Oktober 1909 (1) |
| • | Günter Wengorz: Die Eröffnung des Personenverkehrs auf der Schmalspurbahn Reichenbach (Vogtl.) unt. Bf – Oberheinsdorf vor 100 Jahren in Reichenbacher Kalender 2009, Seite 36 (2) |
| • | Rainer Heinrich/Werner Nitzschke: Die Rollbockbahn, Eisenbahn Kurier Verlag Freiburg 1995 |