Wir geben eine Geschichte unserer unvergessenen Lucia Saring wieder, die sie am 28. 11. 2007 aufschrieb. Als junge Frau musste sie sich gemeinsam mit ihrer Mutter kurz vor Ende des 2. Weltkrieges wie viele Andere auf die Flucht begeben. Diese Geschichte soll uns heute deutlicher denn je vor Augen führen, was Krieg, Vertreibung, Not und Angst hinterlassen können. Wir leben seither im Frieden. Schätzen wir das und treten wir immer dafür ein, dass es nie wieder Krieg gibt. (GH)
Lucia Saring (1922-2014; Foto: SZ April 2002)
Es war am Abend des 5. Mai 1945 als der Befehl kam, am 6. Mai muss Neusalza-Spremberg geräumt und leuteleer sein. Die Leiterwagen waren schon lange gepackt und so sind wir am 6. Mai früh zeitig losgezogen - meine Mutter, Anna Freund und ich. Anna Freund, die seit vielen vielen Jahren Mieterin bei uns im Haus war, war damals schon so etwa 70 Jahre alt, aber noch sehr gut zu Fuß. Wir sind zunächst auf den Obermarkt, wo schon viele Leute versammelt waren. Was wir uns damals vorgestellt haben, weiß ich nicht mehr. Auf keinen Fall wollten wir den Russen in die Hände fallen. Die Propaganda im Radio hatte uns jedenfalls sehr viel Angst eingetrichtert. Zunächst wollten wir bis an die Elbe, dort sollten die Amerikaner sein.
Auf unserem Leiterwagen hatten wir unter anderem auch zwei Koffer mit Winterkleidung aufgeladen. Nun ging es los. Als schlimme und letzte Nachricht nahmen wir mit auf unseren Weg: Frau Dr. Deinhard hat sich und ihre beiden Mädels vergiftet1).
Wir haben die vollgestopfte Hauptstraße gemieden und unseren Weg in Richtung Sudetengau auf Nebenwegen gesucht. Das war gut so, denn der Marktplatz von Rumburg, der mit Flüchtlingen vollgestopft war, wurde von Tieffliegern beschossen. Verletzte hat es sicherlich gegeben, ob auch Tote, weiß ich nicht.
Wir konnten die Flieger beobachten und weil in unmittelbarer Nähe ein Wäldchen war, haben wir darin Schutz gesucht und vielleicht auch gefunden. Nach kurzer Zeit sah ich, dass die Tasche mit unseren Papieren und dem Geld am Leiterwagen (wir hatten die Seiten durch Zaunlatten erhöht) hängen geblieben war. Das konnte ich nicht so lassen und bin zum Leiterwagen zurück. Das hatte man wohl aus einem Tiefflieger heraus beobachtet und ich wurde beschossen. Ein Munitionssplitter sauste über meinen Kopf, so dass ich den Luftzug verspürte. Wir sind dann weiter, zwischen Pferdewagen und Ochsengespannen. Autos sind uns keine mehr begegnet. Die hatte man wohl schon requiriert – sicherlich auch noch von deutschen Soldaten. Die Autobesitzer mussten aber bald mit Nichts und zu Fuß weiterziehen, denn, wie gesagt … es waren nicht nur die Autos sondern auch alles Mitgenommene weg.
Wir sind mit unserem Leiterwagen immer weiter gezogen. Ich kann mich nicht besinnen, dass wir Hunger gehabt hätten und Essenspausen eingelegt hätten. Auch sind wir anscheinend garnicht müde geworden, denn die erste Nacht sind wir durchmarschiert, ohne längeren Halt. Hatte uns die Angst, die uns im Nacken saß, munter gehalten?
In einer großen Spanschachtel hatten wir einige Lebensmittel verstaut, Brot, Butter. Ein Glas eingekochtes Kaninchenfleisch und eine „Taschenwachtel“ Korn (die wird später noch eine Rolle spielen). Es war schon Nacht, als wir in Schönlinde waren. Ein Bäcker verteilte dort Brot so heiß wie es aus dem Ofen kam. Es hätte aber die wunderbare Brotvermehrung sein müssen, um alle Flüchtlinge befriedigen zu können.
Wir sind weiter bis zur Kreuzbuche (früher bekannt, da sogar Wanderungen bis dorthin gemacht wurden). Irgendwann, irgendwo brannte ein Munitionsauto. Meines Erachtens war es mit Gewehrmunition beladen. Ein bis heute unvergessliches Bild, denn irgendwie ging jeder Schuss glühend hoch. Es muss an der Kreuzbuche gewesen sein
In der Zwischenzeit kamen russische und polnische Soldaten und wir erfuhren, dass am 8. Mai ab 12.00 Uhr Waffenruhe herrschte. Da haben wir Kehrt gemacht und uns den Rückweg gesucht. Wir waren müde und der erste Ort, den wir erreichten, muss Ehrenberg gewesen sein. Da haben wir bei einem Bauern gefragt, ob es eine Möglichkeit zum Übernachten gibt. Uns wurde ein Platz in der Scheune angeboten, den wir gern angenommen haben. Ob wir bei dem Bauern auch ein Abendbrot bekommen haben, weiß ich nicht mehr. Später stand im Hof ein vollgepackter Pferdewagen. Am Schluss waren wir insgesamt 12 Personen in der Scheune und alle haben trotz des ungewohnten Lagers tief und fest geschlafen. Mitten in der Nacht war ein ausländischer Soldat mit dem Bauern in die Scheune gekommen und nur meine Mutter, die einen sehr leichten Schlaf hatte, hat gehört, wie der Bauer zum Soldaten gesagt hat: „Hier ist nix!“. Darauf hat der Soldat den Rückzug angetreten. Als wir früh aufstanden, war der Pferdewagen restlos abgeräumt. Alles war zerrissen, zerschnitten oder in den Dreck getrampelt. In dem ganzen Mischmasch stand aber ein 2-Liter Einweckglas mit Stachelbeeren. Wieso ausgerechnet das überlebt hat, weiß ich nicht.
Nun haben wir den kürzesten Weg nach Hause gesucht, der führte über den Jütelsberg. Oben, auf der Höhe in der Nähe der Gastwirtschaft, roch es plötzlich stark nach Schnaps. Wir nahmen an, weil Russen und Polen ganz versessen auf Alkohol waren, seien Schnapsflaschen ausgekippt worden. Gewundert haben wir uns allerdings, dass, je weiter wir uns von der Baude entfernten, der Schnapsgeruch immer noch da war. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn uns Soldaten begegnet wären. Die hätten wohl unseren Wagen abgeräumt. Erst als wir diesen zu Hause dann selbst abgeräumt hatten, mussten wir feststellen, dass die Schnapswachtel in der Spanschachtel zu Bruch gegangen war und deshalb diesen Geruch verursacht hatte. Ein bisschen Glück war eben auch immer mit dabei.
1) Frau Dr. Deinhard war praktizierende Ärztin in Neusalza-Spremberg (Obermarkt). Ihre Töchter dürften etwa 10 Jahre alt gewesen sein. Deinhard‘s Ehemann war im Krieg eingezogen. Er kam jedoch nach Kriegsende wieder nach Hause und fand seine Familie nicht mehr vor. (Horst Wagner)