Heute im Gespräch: Frau Anne-Rosel Trowe, die älteste Bewohnerin unseres kleinen Ortes an der Schwarzen Elster.
Im August 1925 in Elsterwerda geboren, möchte Anne-Rosel Trowe in diesem Jahr ihren 98. Geburtstag feiern. Die ersten Schritte machte sie in Kröbeln, aber bereits im Alter von 6 Jahren wurde Haida ihre Heimat und ist es bis heute. Vater und Mutter Reichenbach bauten 1931 in der Liebenwerdaer Straße eine neue Fleischerei und das Wohnhaus für die kleine Familie. Damals hatte Haida 2 Bäckereien, 2 Fleischereien, einen Gemüseladen, die Baumschule, die Schmiede und nicht zu vergessen 2 Wirtshäuser. Schenkwirts Brößgens Scheune an der Ecke nach Würdenhain war der Spielplatz für Rosel und die Kinder der Nachbarschaft. Hasche und Murmeln spielen, sich zanken und wieder vertragen – es war eine behütete Kindheit.
Zur Schule ging Anne-Rosel in Haida und Würdenhain, Sportunterricht gab es bei schlechtem Wetter im Vereinsraum der Schenke Arlt in der Bahnhofstraße 1 in Haida. 1937, im Alter von 12 Jahren, erlebte sie, wie der Sandweg vor ihrem Haus zu einer gepflasterten Straße wurde und dass sich ein politischer Wandel abzeichnete, der bereits im Schulalter Einfluss auf Kinder und Jugendliche nahm. Ostern 1939 endete Rosels Schulzeit und ihre Jugend wurde überschattet vom Kriegsbeginn im Herbst des gleichen Jahres. Eine ganze Generation Jugendlicher musste über Nacht erwachsen werden und ihre kindlichen Vorstellungen ablegen. Heldenhaft ein Teil des kämpfenden Volkes zu sein wurde das erklärte Ziel vieler Heranwachsenden. Die Mädchen waren angehalten, jederzeit hilfreich bereitzustehen und den Soldaten unter die Arme zu greifen. Ein Weg, die Landsleute an der Kriegsfront zu motivieren, war, einem unbekannten Soldaten zu schreiben. So sollten Trost und Hoffnung an ebenso noch halbe Kinder weitergegeben werden, die in Uniform und an der Waffe das Deutsche Reich unbesiegbar machen sollten.
Auch Rosel schrieb 1940 an einen völlig Unbekannten und bekam Antwort von Siegfried. Recht krakelig, so erinnert sie sich, waren die Zeilen, denn Siegfried antwortete vom Krankenlager. Wegen eines Durchschusses am rechten Arm verletzt, schrieb er mit links seine ersten Zeilen an das bildhübsche Mädel aus Haida. So begann die Brieffreundschaft der beiden, die innig und unbedingt wichtig wurde, das bewiesen Siegfrieds wiederholte Besuche, die ihn nach Haida führten, wann immer er Urlaub von der Front bekam. Im Angesicht des Krieges und der täglichen Gefahr umzukommen, reifte insbesondere in Siegfried der Wunsch nach Bleibendem, nach einem verbindlich familiären Zuhause und auch nach dem Versprechen in die Zukunft.
Im Jahr 1942 nahm Anne-Rosel mit zarten 17 Jahren ihren Siegfried aus Frankenberg bei Chemnitz zum Mann. Der dafür angesetzte Heimaturlaub dauerte ganze 7 Tage, dann schon hieß es wieder Abschied nehmen, ohne zu wissen, ob es das ersehnte Wiedersehen geben würde. Auch da allen die Situation deutlich war, wurde umso begeisterter Hochzeit gefeiert. Wie gut kennt man sich, wenn es mehr Zeilen als Begegnungen sind? Wie groß müssen Wunsch und Vertrauen gewesen sein, dass unter diesen Umständen der Ehebund geschlossen wurde. Nur selten sahen sich die frisch Vermählten und die Gräuel des Krieges forderten viel. 1944 ging für beide der Wunsch nach der Zukunft in Erfüllung und Anne-Rosel gebar zu Hause in Haida ihre Tochter Angelika. Nach Ende des Krieges 1945 verblieb Siegfried für 2 lange Jahre in französischer Kriegsgefangenschaft. Wie oft Anne-Rosel damals sorgen- und sehnsuchtsvoll in die Ferne dachte, gehört neben dem Hunger und Mangel dieser Zeit zu unser aller Geschichte.
1947 gelang es der jungen Familie dann nach und nach miteinander in die neue Epoche zu gehen. Nach der Zeit der Trennung mussten sich alle neu kennenlernen und an das gemeinsame Leben gewöhnen. In den ersten Jahren verdiente sich Siegfried Trowe sein Geld als Waldarbeiter und auch Anne-Rosel arbeitete kurzzeitig in der Baumschule, in der Küche des Haidaer Kieswerkes oder auch für ein Jahr im Verkauf bei Bäckerei Wendt. Mit dem Wechsel Siegfrieds in den Schichtdienst der Brikettfabrik in Lauchhammer ordnete sich das Familienleben ganz und gar nach seinem Dienstplan. Wenn Anne-Rosel Trowe auf die gemeinsamen Jahre blickt, spricht sie von einem guten und genügsamen Leben. Es war alles da, was nötig war. Beide gingen gern zu Karnevalsveranstaltungen und zum Dorftanz. Rosel machte 1964 gemeinsam mit Tochter Angelika ihren Führerschein und als dann der Familientrabant endlich da war, genossen sie die gemeinsamen Ausfahrten sehr.
Mühsamer wurde das Leben, als die Lungenkrankheit ihres Mannes deutlicher zu Tage trat und bestenfalls an der Ostsee im Urlaub Linderung erfuhr. Bis zum heutigen Tag ist die wichtigste Größe in Anne-Rosel Trowes Leben der Familienanschluss. Ihren Wunsch, im eigenen Zuhause bleiben zu können, ermöglichen ihr bis heute Tochter und Schwiegersohn in verantwortungsvoller und liebevoller Art. Inzwischen ist die Nachkommenschaft gewachsen und Anne-Rosel erfreut sich am ersten Ururenkel Arthur, der bereits ein Jahr alt ist. Gern würde sie manchmal im Nachdenken des Tages wieder mit ein paar Menschen ihrer Zeit sprechen. Mit den Tanten Elli Baum und Gertrud Frost beispielsweise, die einst in Notzeiten Obermieterinnen im Hause Reichenbach und dann für Jahrzehnte in der Haidaer Dorfgemeinschaft verankert waren.
Die Last des hohen Alters ist da, in diesen Momenten, in denen Anne-Rosel schmerzlich klar wird, wer bereits vorausgegangen ist. Es bleiben die guten Augenblicke des Tages, in denen sie Gesellschaft hat, jemand aus der Familie bei ihr in der kleinen Küche hereinschaut und Nähe erlebbar ist. Wer so wie Anne-Rosel Trowe reichhaltige Lebenserfahrungen sammelte, hat einen hervorragenden Rat für alle, die nach ihr kommen: „Zankt euch nicht!“