Mittlerweile ist es gute vier Monate her, dass Tore Renbergs Buch in Deutschland erschienen ist. Und vor ziemlich genau zwei Monaten haben wir Ihnen das Buch hier im Amtsblatt wärmstens als lokalkollorierte Lektüre für die dunkle Jahreszeit oder ebensolches Weihnachtsgeschenk ans Herz gelegt. Jetzt würde ich allzu gerne wissen, wie viele von Ihnen seitdem eines der zwei in der Stadtbibliothek vorhandenen Exemplare der „Lungenschwimmprobe“ ausgeliehen oder sogar schon andernorts erworben haben.
Nicht weniger würde mich die Meinung der Leserinnen und Leser interessieren, denn eines kann man wohl sagen: Leichter Stoff ist das nicht. Und das nicht nur wegen der wenig erbaulichen Thematik, sondern eben auch, weil Tore (der ausdrücklich geduzt werden möchte, denn in Norwegen wird nur der König gesiezt.) einem mit diesem stetigen Wechsel vom Historien- zum Briefroman - zum Sachbuch - zu düsterer bis derber Lyrik – zur Gedankensammlung doch einiges abverlangt.
Ich kann jedenfalls nicht verhehlen, dass ich – trotz der Faszination für das, was da im Herzen meiner Heimatstadt passiert ist – das Buch immer wieder für mehrere Tage weggelegt habe, weil mir der feierabendliche Sinn dann doch eher nach etwas nennen wie es mal: erbaulicherem stand.
Kurz gesagt: Leichte - oder gar seichte - Kost ist „Die Lungenschwimmprobe - Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde“ nicht. Aber dazu ist das Schicksal der Anna Vogt und ihrer Familie, so wenig davon auch historisch verbürgt ist, schlichtweg nicht geeignet. Und ich wage zu behaupten, dass Tore auch nicht an erster Stelle die Unterhaltung seiner Leserschaft im Sinn hatte: Dazu war er selbst von Annas Schicksal, stellvertretend für das so vieler junger Frauen ihrer Zeit, viel zu betroffen und ergriffen. Man nicht nur zwischen den Zeilen lesen, dass er es – je tiefer er sich in die historischen Fakten eingearbeitet hat - als seine Aufgabe verstanden hat, diesen Schicksalen eine literarische Stimme zu geben.
Schließlich ist er auch nur zufällig, im Rahmen der Recherche für eine andere Arbeit, über die Lungenschwimmprobe als gerichtsmedizinische Methode gestolpert. Neugierig geworden, ist er dann von einem befreundeten norwegischen Mediziner mit der Nase ins Lehrbuch und von da auf Dr. Schreyer aus Zeitz, seine Pionierleistung in Pegau und damit ins Mitteldeutschland des 17. Jahrhunderts gestoßen worden – und hat sich in das Thema verbissen. Es würde mich nicht wundern, wenn er dabei zuerst lediglich einer morbiden Faszination für das Handwerkliche-grobe und gleichzeitig so Präzise der Gerichtsmedizin gefolgt ist, der man sich hierzulande am ehesten im Tatort aus Münster hingeben darf. So ist es jedenfalls mir ergangen. Wobei meine Begeisterung vor allem daher rührte und rührt, dass diese mutmaßlich erste zumindest in dem, was wir heute Deutschland nennen, „gerichtswirksame“ oder „aktenkundige“ Lungenschwimmprobe nun gerade im Pegauer Rathaus ins Werk gesetzt wurde. (Unglaublich, finden Sie nicht auch?), dass dies offenbar spurlos an den Annalen der Stadt vorbeigegangen ist. (Wie kann das sein?), dass dazu folgerichtig im hiesigen Heimatmuseum nichts zu finden ist. (Was aus meiner Sicht dringend geändert werden sollte.) Ganz abgesehen davon, dass man sich als Kind der Stadt am Ende wohl nicht einmal darüber im Klaren ist, dass es in einem Rathaus wie dem unsrigen eben auch einen Kerker gab.
Jedenfalls: Von Dr. Schreyers mutiger Tat und dem von ihm verfassten Bericht ist der Weg nicht weit zur Mutter des toten Säuglings, von deren Schicksal wir vor allem dank der Memoiren des Christian Thomasius historische Kenntnis haben: In gleich vier Bänden bringt der erst nach seinem unfreiwilligen Weggang aus Leipzig zu großen Ehren gelangte Jurist und Mitbegründer der Universität zu Halle sein Lebenswerk zu Papier – und stellt dabei den Fall Anna Vogt an erste Stelle. Für diejenigen unter Ihnen, die der Sache einmal genauso auf den Grund gehen wollen, wie Tore: Dem informationsdurstigen Google sei Dank, sind beide Texte in digitalisierter Form über die auf wissenschaftliche Recherchen ausgerichtete Suchplattform Google Scholar – und hoffentlich bald auch in „handgreiflicher“ Form in der Bibliothek und, dann hoffentlich im Rahmen eines größeren Ganzen, auch im Heimatmuseum - verfügbar.
In der gut 100 Seiten dickeren deutschen Fassung (norwegische Wörter sind im Durchschnitt deutlich kürzer) hat man auf den Anhang, der u.a. ein mit umfangreiches Personenregister und eben die genauen Titel der wenigen historischen Quellen bereithält, verzichtet. Hier lohnt sich also ein Blick in die am Ende der deutschen Fassung verlinkte Textdatei – der mir viel Zeit in den Untiefen des Internets erspart hätte…
Leider kenne ich bisher keines der anderen von Tore verfassten Bücher. Derart historische im Sinne von nicht in der wie auch immer zeitlich begrenzten Gegenwart verankerte Romane, die noch dazu fernab seiner Heimat spielen, sind aber eher als Neuland zu betrachten. (Wie gesagt: „Die Lungenschwimmprobe“ war ein Produkt des Zufalls.) Da Tore aber von mehr als nur einer Muse geküsst worden ist, verwundert es nicht, dass er sich hier in gleich mehrfacher Hinsicht auf fremdes Terrain vorwagt. Ein kurzer Blick in die englische Wikipedia genügt, um zu sehen, dass er auch Musiker, Sänger, Theater- und Drehbuchautor aktiv war oder bis heute ist. Leider beschränkt sich die deutsche Version hier bisher vor allem auf sein Schaffen als Autor von Romanen und Kinderbüchern.
Da mich im Oktober letzten Jahres nicht nur Dr. Schreyers Lungenschwimmprobe – und deren Abwesenheit im Gedächtnis der Stadt - fasziniert, sondern auch die Begegnung mit Tore nachhaltig beeindruckt hat, kann ich nur sagen: Auch auf musikalischem Gebiet lohnt sich ein genauerer, nun ja, Blick: Tore hat sich immer wieder in Bands und als Solokünstler zu Gehör gebracht. Dabei stand er u.a. als Sänger an der Seite der Schlagzeugspielenden Nummer 1 der norwegischen Gegenwartsliteratur, Karl-Ove Knausgård, mit dem er seit Jahren eng befreundet ist. (An norwegisches Vinyl gelangt man dabei nicht auf Knopfdruck: Wer hätte gedacht, dass Jeff Bezos mit seiner eigentlich allgegenwärtigen Handelsplattform in Norwegen bis dato keinen Fuß in die sprichwörtliche Tür bekommen hat?)
Wenn Sie jedenfalls nach Lektüre des Buches noch immer Interesse an der Thematik haben und vielleicht auch einmal den Norweger kennenlernen wollen, der mit dem Rad von Halle an der Saale bis Zeitz gefahren ist, um sich selbst einen Eindruck vom Elsterland zu verschaffen, dann haben Sie dazu dieses Jahr gleich mehrfach die Chance: Norwegen ist im März 2025 Gastland der Leipziger Buchmesse. Also kommt Tore Renberg für Lesungen in Chemnitz, Erfurt, Dresden und Zeitz zurück nach Mitteldeutschland. Genaueres zum Wann und Wo finden Sie unter folgendem Link:
Übrigens: Neben Tore Renberg werden wohl gut 40 weitere norwegische Autorinnen und Autoren der Einladung nach Leipzig folgen, darunter auch der oben erwähnte Karl Ove Knausgård. Mehr dazu erfahren Sie zur Leipziger Buchmesse.