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Gemeindebote - Mitteilungsblatt für die Ortsteile
Ausgabe 13/2024
Ortsteil Lindenthal
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70 Jahre, ein Leben in Lindenthal

Foto 1915, links das Geburtshaus

Besatzungszonen 1945

Foto 1898, Gutsvilla Theodor und Otto Arndt

Neubauern 1950 in Breitenfeld

Plan 1986

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Lindenhöhe 1986

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Ein Lindenthaler blickt 70 Jahre auf seinen Heimatort zurück

Zum Jahresende möchte ein Lindenthaler seine persönliche Sicht auf seinen Heimatort und die Gemeindeentwicklung von der Nachkriegszeit über die Wendejahre 1989/90 bis zur Eingemeindung nach Leipzig darstellen.

Der Autor des Bilderbogens, Roland Busse, wurde Mitte der 40er-Jahre des letzten Jahrhunderts in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) geboren und in Lindenthal getauft. Er wohnte 25 Jahre mit seinen Eltern und seiner Schwester in der Bahnhofstraße (Lindenthaler Hauptstraße), also mitten im Ort.

Foto 1915 links das Geburtshaus neben dem Postamt. Nach Lehre und Studium kehrte er ~ 1975 zu seinen Wurzeln nach Lindenthal zurück.

Die Vorkriegsjahre kann er nur aus den Erzählungen der Eltern und Verwandten reflektieren. Aber etwas ist eindeutig: Von der Gebäudesubstanz, Straßen und Infrastruktur hat der Ort Lindenthal im Krieg kaum Schaden genommen. Das menschliche Leid der Vertriebenen, der kranken Kriegsrückkehrer und der vielen Kinder die ohne Vater aufwuchsen, wurde dem Autor und den später Geborenen erst nach und nach bewusst.

Die ersten bewussten Erinnerungen an das alte Lindenthal waren natürlich das häusliche Umfeld und auch das Flakbeständelager Lindenthal gleich nebenan. Das ehemalige Militärobjekt ist die Brache zwischen Triftsiedlung, Sportplatz und einschließlich Edeka-Markt an der damaligen Bahnhofstraße. Das Beständelager wurde 1945 geplündert, geräumt und niedergebrannt. Hier fand der Autor mit seinen Freunden einen Spielplatz mit Asphaltpisten, Hallen ohne Dach und einer bombardierten Flakstellung. Den Einzug der Sowjetarmee mit dem „Werk Motor“ in die alten Hallen und die schrittwese Annektierung des Gesamtareals konnten die Lindenthaler miterleben.

Das sind die mehr oder weniger sichtbaren Veränderungen in der Gemeindesubstanz der jungen DDR:

- Die Kirche blieb im Dorf. neue Pfarrer kamen, legten sich mit der FDJ an und gingen wieder. aber die Pfarrgemeinde wurde einfach nicht größer und jünger.

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Die Großbauern in der Hauptstraße waren alle noch da und ackerten auf ihren Feldern. Nur das Otto-Arndt-Gut war den Sowjets zu pompös. Sie beschlagnahmten die Villa und hatten für mehrere Jahre eine schicke Kommandantur. Von der Treuhand verschachert ist die Villa heute zur Ruine verkommen.

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Die ortsbekannten Ärzte Amtsarzt Dr.Bandau, Zahnarzt Dr.Hopf und das Ärzteehepaar Nagel praktizierten wie schon immer in ihren Praxen.

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Lebensmittelgeschäfte, Bäcker, Fleischer, Stoffe- und Wollwaren, Hausgeräte, Kohlen, Fahrräder, Schreibwaren, Drogerie, Handwerk und Gewerbe waren gleich mehrfach genau wie vor dem Krieg vorhanden.

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Restaurant, Gasthäuser, Tanzsaal und Freibad hatten zwar wechselnde Besitzer, aber sie empfingen ihre Gäste wie in den Vorkriegsjahren. Nur das Kino im Ratskellersaal, von der Besitzerin privat geführt, war der neuen SED-Gemeindeverwaltung wichtig. Massenmedien gehören in die Hände des Proletariats! Marie Dietzel wurde enteignet.

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Die Organisationen zur Daseinsvorsorge wie Feuerwehr, Rotes Kreuz, Sportvereine, Gartenvereine, Schule, Kindergarten usw. haben durch die Brille der Entnazifizierung in den Nachkriegsjahren einen Neustart geschafft.

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Das Baugeschehen bis zur Wende 89/90 in Lindenthal und Breitenfeld war 45 Jahre nahe Null. Straßen, Miets- und Geschäftshäuser wurden prinzipiell nicht gebaut. In Breitenfeld entstanden gleich nach 1945 aus illegalem Abriss des Rittergutes ein Neubauerndorf und landwirtschaftliche Zweckbauten. Mitte der 70er-Jahre wurden in Lindenthal einige wenige Einfamilienhäuser gebaut.

Gestrichelte Linie wäre die A 14 nördlich der Lindenthaler Hauptstraße.

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Ab ~ 1982 war im Ort jede Investition untersagt. Das Neubauerndorf, der Wald und der Exerzierplatz sollten ab 1988 devastiert, d.h. mit dem Braunkohletagebau „Breitenfeld-Süd“ überbaggert werden. Die jetzige A 14 Autobahn würde gleich hinter den Lindenthaler Bauergütern parallel zu Hauptstraße verlaufen. Der gesamte Ortsteil Breitenfeld, der Friedhof und der Tannenwald würden der Braunkohle zum Opfer fallen. Die Einwohner waren sehr verunsichert, die Einwohnerzahl sank und das Durchschnittsalter stieg an.

Der Autor lernte 10 Jahre an der Alfred-Kästner-Oberschule Lindenthal. Bauliche- oder schulische Veränderungen sind ihm dort zwischen 1953-63 nicht in Erinnerung. Ein herausragendes Objekt war jedoch das in Eigenleistung 1960 ertüftelte 1. Schul-Planetarium der DDR des geschätzten Physiklehrers Karl Winkler. Zu dessen Vorführung pilgerten Jahrzehnte lang Schulklassen aus der gesamten DDR nach Lindenthal. Karl Winkler war hier bis zu seiner Pensionierung ein stiller Star der Himmelskunde.

Das ist sie, die berühmte Haifischbar von Elke und Dieter Bock am Bad.

Für junge Lindenthaler waren die Erlebnisse der Jahre 1970-90 geprägt vom Jugendtanz in der Kulturstätte, später von der DISCO in der Haifischbar und natürlich vom Freibad. Sportliche Lindenthaler hatten mit Fußball, Tischtennis, Radball, Kegeln und Volleyball in der BSG Einheit Gelegenheit sich zu beweisen.

Mit der Wende 1989/90 waren Erwartungen verbunden, die so nicht schnell realisiert werden konnten. Das Sterben von Ladengeschäften und Handwerk in Lindenthal begann bereits in der späten DDR. Die Rote Armee zog ab und deutsche Entsorgungsfirmen beräumten das Werk Motor an der Bahnhofstraße. Als Ersatz für aufgegebene Bäcker-, Fleischer- und Konsum-Geschäfte bekam Lindenthal den preiswerten Edeka-Ableger „Diska“.

Ab Mitte der 90-er Jahre verschwanden erst der Alte Gasthof, Ratskeller mit Kulturstätte, das Casino, Zur Erholung, Drei Kugeln und zuletzt der Schafstall. Gastronomisch ging nach dem Aus für die Haifischbar in Lindenthal die ehemalige Vielfalt verloren. Aber aus dem alten angeschmutzten Familienbad von 1924 wurde unter der neuen Gemeindeverwaltung zeitgemäß das Ökobad.

Das gewaltige Neubauprojekt „Lindenhöhe“ für Miets- und Einfamilienhäuser mit Discounter ab Mitte der 90-iger Jahre brachte für Lindenthal wieder Einwohnerzuwachs und -Verjüngung. Aktuelle Projekte wie der Edeka-Markt, Schulanbau oder Straßenbau „An der Hufschmiede“ brauchten nach der Eingemeindung unter Führung der Stadtverwaltung Leipzig einen zähen mehrjährigen Vorlauf.

Der Ortsteil Breitenfeld hatte eine eigene Entwicklung. Mit 78 Neubauern war Breitenfeld nach der Bodenreform das größte Neubauerndorf Sachsens. Pläne zur Verbesserung der Ortsstruktur gab es in der DDR reichlich, wie Kaufhalle, Kindergarten, Restaurant, Hotel, Straßenbau … Wie die SED das umsetzte und den Ortsteil verplante, erkennen wir daran, dass Breitenfeld in den 90-iger Jahren komplett von der Landkarte verschwunden sein sollte. Der Autor hat viele Nachmittage beim „Unterrichtstag in der Sozialistischen Produktion“ hier in Breitenfeld verbracht. Seit der politischen Wende weht hier der frische Wind der Veränderung. Moderne Infrastruktur, Kindergarten, Neubauten und ein aktiver Bürgerverein wecken die Hoffnung, dass bald alles gut wird. Dabei verfällt die Orangerie, der Park ist verschlossen und der Supermarkt bleibt Illusion.

Im Leipziger Ortsteil Lindenthal/Breitenfeld hat sich nach der Eingemeindung vor über 24 Jahren viel verbessert. Aber genau so viel ist hier bei knapper Kassenlage noch zu richten. Da feierten wir Rand-Leipziger besser 2023 das Fest „Die Stadt als Bühne“ und blickten voller Stolz auf die Vergangenheit zurück.

Das sind die Erinnerungen des Autors auf ein ¾ Jahrhundert in Lindenthal. Bestimmt gibt es hierzu noch vieles zu ergänzen. Aber jeder hat die Ereignisse dieser Zeit anders erlebt und würde diese deshalb heute anders niederschreiben.

Der Bilderbogenautor Roland Busse wünscht den Lesern des Gemeindeboten ein frohes Weihnachtsfest 2024.