Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Jung,
sehr geehrter Herr Baubürgermeister Dienberg,
sehr geehrter Herr Umweltbürgermeister Rosenthal,
sehr geehrte Damen und Herren Stadträte,
in Seehausen bin ich seit 1954 aufgewachsen und kenne noch die Deponie als riesige Grube, wo wir als Kinder zum Rodeln im Winter waren. Einen Rodelberg gab es es ja nirgends. Damals hatte Seehausen noch seinen dörflichen Charakter und ich erinnere mich sehr gern an die Zeit mit Post, Friseur, Fleischer, HO, Konsum, Gasthof, Schmied, Autowerkstatt, Glaser, Stellmacher, Tischler usw. . Als Kinder waren wir froh über Windschutzhecken und das Autobahnwäldchen. Nichts gibt es mehr, ringsherum ist die Natur total verschwunden. Der Dorfteich ist ein Witz. Wir haben da im Winter Eishockey gespielt. Im Sommer sind die Aquarienbesitzer aus der Stadt an den Teich gekommen und haben Wasserflöhe gekeschert.
Vor den wenigen Straßenlampen schwirrten nachts Unmengen an Faltern und anderen Insekten herum, Fledermäuse schnappten danach.
Im Winter wurden Feldhasen Treibjagden mit Netzen gefangen und lebend nach Frankreich gebracht, weil es dort schon kaum mehr welche gab. Jetzt ist es hier noch trister. Bei unserem jährlichen Osterspaziergängen schwirrten hunderte Lerchen in den Himmel, es gab noch Rebhühner und Feldhamster, welche wir damals ausgegraben haben (in unserer Unschuld und weil sie angeblich so viel Getreide gehamstert hatten, wurden uns als Schädlinge nahegebracht in der Schule) sowie jede Menge Spatzen uns andere Vögel.
Mittlerweile wohne ich in der Stadt und fahre nur noch sehr ungern nach Seehausen, weil der Ort von Industrie umzingelt ist und keine Seele mehr hat. Die Menschen dort tun mir leid.
Der Stadtteil Seehausen ist in seinem direkten Umfeld stark von Industrie, Straßen und Flugverkehr geprägt. Als einzig bedeutende Naturfläche befindet sich hier die ehemalige Deponie, bei der es sich zum erheblichen Teil um ein Renaturierungsgebiet handelt, das als Ausgleich für den Eingriff in die Natur durch den Deponiebetrieb vor Jahren aufgeforstet wurde.
Für die Anwohner ist dies der unverzichtbare (weil alternativlose) Bestandteil für ein auch nur einigermaßen lebenswertes Umfeld; eine grüne Lunge mit einer mittlerweile herausragenden Artenvielfalt.
Die Kartierung der Biotop- und Artenausstattung der Deponie Seehausen hat erbracht, dass dort sehr seltene und gefährdete Arten wie Heidelerche und Sperbergrasmücke sowie drei Orchideenarten vorkommen, außerdem die blauflüglige Ödlandschrecke und ein artenreiches gefährdetes Wildbienenvorkommen (50 verschiedene Arten). Es handelt sich bei der Deponie um ein Mosaik aus Offenland- und geschlossenen Bereichen.
Weiterhin lassen sich hier Zauneidechsen und Populationen weiterer seltener Brutvögel verzeichnen. Außerdem finden zahlreiche andere Tier- und Pflanzenarten, die leider nicht im Artenschutzgutachten erfasst werden und für die es keine Ausweichflächen gibt, hier ein Zuhause.
Das entstandene Biotop auf der Deponie ist gerade auch durch seine Insellage in einem stark durch den Menschen überprägten Gebiet für Leipzig besonders schutzwürdig und schutzbedürftig, d. h. die Ausweisung als Naturschutzgebiet ist auch angesichts des Artensterbens, der Biodiversitätskrise und im Hinblick auf die dringend notwendige Schaffung eines Biotopverbundes geboten.
Hinzu kommt die vorhandene Waldbestockung, die als Kompensationsfläche angelegt wurde, im Regionalplan Westsachsen zum Walderhalt festgesetzt ist und im Aufstellungsbeschluss zum Bebauungsplan „Energieberg Seehausen“ nicht einmal als Umweltbelang erwähnt wurde. Dieser Wald sorgt nicht nur für die Versorgung mit Frisch- und Kaltluft in der Umgebung, sondern für den Wasserrückhalt und erhöht den Erholungswert der Landschaft.
Der Wald auf dem Deponiealtberg ist in einem guten Zustand und wächst auf einer ausreichend mächtigen 2,9 – 3 m dicken Bodenschicht.
Nun gibt es seitens der Stadtwerke Leipzig Pläne, auf diesem Gelände eine PV-Anlage mit einer Gesamtfläche von ca. 19,6 ha zu errichten.
In unmittelbarer Nähe befindliche bereits versiegelte Nutzflächen (kommunale und private) in riesigen Dimensionen werden hingegen nicht für das PV-Vorhaben in Betracht gezogen, geschweige denn hinsichtlich ihrer Eignung geprüft – selbst jene Flächen nicht, bei denen die Projekte nach Ausrufung des Klimanotstandes realisiert wurden bzw. werden. Auch gibt es bis jetzt ganz allgemein keine Potentialanalyse für zweitnutzbare Flächen in Leipzig, auf denen Photovoltaik installiert werden könnte.
Bei dem genannten Vorhaben handelt es sich um ein Projekt mit Brisanz und richtungsweisender Bedeutung. Es hat Beispielcharakter dafür, welchen Stellenwert die Stadt Leipzig tatsächlich dem Natur- und Artenschutz zu- oder aberkennt. Dies ist für uns alle von enormer Wichtigkeit, denn es hat unmittelbaren Einfluss auf unser Lebensumfeld – nicht nur in Leipzig.
Ich bitte deshalb um die Beantwortung folgender Fragen:
Wie stehen Sie/wie steht Ihre Fraktion zur Überbauung (Rodung) dieser naturschutzwürdigen Flächen und des Waldes mit Photovoltaik?
Befürworten Sie ein Schutzwürdigkeitsgutachten zur Feststellung der Schutzbedürftigkeit dieser Flächen, auch vor dem Hintergrund des internationalen Ziels der Unterschutzstellung von 30 % der Land- und Meeresflächen bis 2030 (High Ambition Coalition for Nature and People)?
Befürworten Sie den beschleunigten Ausbau von Photovoltaik auf versiegelten Flächen (Dächer, Fassaden, Gewerbe, Industrie, Lärmschutzwälle) und auf Ackerflächen anstatt auf ökologisch wertvollen Flächen und setzen sich dafür mit ganzer Kraft ein?
Befürworten Sie, dass vor allem die Stadt mit ihren Gesellschaften sich beim Umsetzen von alternativen Energien-Projekten von unabhängigen Kompetenzträgern wie KNE oder Fraunhofer ISE hinsichtlich Erschließung des Potenzials bereits versiegelter Flächen (z. B. Dächer von Lagerhallen, Garagenhöfen, Schallschutzwände und Flächen an Verkehrswegen) beraten lässt?
Ihren Antworten sehe ich mit großem Interesse entgegen und verbleibe mit freundlichen Grüßen