Titel Logo
Wilthener Stadtanzeiger - Amtliches Mitteilungsblatt der Stadt Wilthen
Ausgabe 11/2023
Partnerstadtnotizen
Zurück zur vorigen Seite
Zurück zur ersten Seite der aktuellen Ausgabe

„Eine Woche im Boberhaus (1)

Das Boberhaus ist eine Art Internat, jedoch ohne ständige Belegschaft. Dazu eingerichtet, um Menschen zu beherbergen, die aus irgendeinem Grunde (sei es ein wissenschaftlicher, sportlicher oder sonstiger) kürzere oder längere Zeit miteinander gemeinsam verbringen wollen. Das Boberhaus liegt in herrlicher Gegend in dem schlesischen Städtchen Löwenberg. Die Landschaft trägt hier starken Agrarcharakter. In der letzten Woche des Monats September 1934 tagte hier das sogenannte ‚Südosteuropa-Kolleg‘. Das war die gemeinsame Beratung von deutschstämmigen Jugendlichen aus Ungarn, Rumänien und Bulgarien unter Mitwirkung einer großen Anzahl von Reichsdeutschen (2). Man wollte sich vor allem kennenlernen. Die verschiedenen Auffassungen über die Zukunft Mitteleuropas sollten rein tatsachenmäßig zum Ausdruck gebracht werden. Dass es dabei auch zu manch scharfer, aber immer freundschaftlich gehaltener Polemik kam, ist nicht zu verwundern. Denn zum Beispiel der Vertreter Rumäniens/Siebenbürgens verfocht natürlich das Recht seines Volkes auf das heutige Großrumänien, während wir, die aus Ungarn Kommenden, dies nicht gelten lassen wollten. Die befreiende Lösungsformel haben wir jedoch nicht gefunden. Was Staatsmänner in fünfzehn Jahren nicht vermochten (3), werden andere, wie redlich sie sich auch bemühen mögen, nicht finden. Unser Aufenthalt im Boberhaus hatte neben den politischen Beratungen einen ganz anderen Reiz. Das war der kameradschaftliche Geist, der hier nicht nur als Geist, sondern auch als Tat herrschte. Das kommt schon in den äußeren Lebensformen zum Ausdruck. Als wir im Boberhaus weilten, nahmen an den gemeinsamen Mahlzeiten an die hundert Personen teil. Jeder befindet sich an seinem Gedeck und erwartet vom freundlichen und genauso tatkräftigen Leiter des Boberhauses, Dr. Greiff, das Zeichen zum gemeinsamen Gesang. Danach nimmt jeder seine Mahlzeit ein. Nach einer Weile vergewissert sich die liebenswürdige Frau Greiff, ob jeder seine Speisen, die einfach gehalten waren, wirklich zu sich genommen hat. Hatte sie sich davon überzeugt, dass jeder junge Mensch gegenüber seinem sterblichen Teil der nötigen Pflicht nachgekommen war, steht sie von ihrem Platz auf – nun stehen alle hundert Teilnehmer ebenfalls auf. Jeder reicht seinem Nachbarn die Hand; alle sind miteinander verbunden wie Kinder, wenn sie ihren Reigen spielen. Nun wünscht Frau Greiff, dass jeglicher eine gesegnete Mahlzeit hatte – hiermit löst sich die große Tafel im Speise- und Musikzimmer auf. Man will gar nicht glauben, welche Lieder-Anzahl die Deutschen kennen und allerorts anstimmen, so daß der ganze Chor mitsingt. Dieses freie Singen, so haben wir es im Boberhaus tagtäglich aufgenommen, ist ein lebendes Dokument der Verbundenheit und der Kameradschaftlichkeit. In unserer Einladung zum Südeuropa-Kolleg standen aber auch solche Sätze: ‘Die gesamte Veranstaltung wird in den üblichen Lagerformen des Boberhauses durchgeführt. Der Tag wird eingeleitet mit Gymnastik und gemeinsame Arbeit aller Teilnehmer in Feld und Garten. (4) Die Teilnehmer werden gebeten, sich in ihrer Kleidung auf Sport und körperliche Arbeit einzurichten.‘ Das war ernst gemeint. Da mußte auch wirklich Gartenarbeit geleistet werden wovor wir uns nicht drückten, zumal wir einen schlesischen Spätsommer hatten, wie man ihn sich nicht besser wünschen konnte. Doch das war es nicht allein – wir hätten es als Verrat an unserer Kameradschaftlichkeit empfunden. Ebenso hatten das große Glück, in unserer Kolleg-Woche angesehene und hochgebildete Menschen kennenzulernen, vor allem Herrn Dr. Raupbach, der bereits mehrere wissenschaftliche Bücher herausgebracht hatte. Aber er hat es als Vorsitzender unseres Südosteuropa-Kollegs nicht versäumt, mit uns gemeinsam auf dem Feld die Kartoffeln herauszumachen, von Erde zu befreien und zu sortieren, schließlich in Körbe zu werfen und zum Keller des Boberhauses zu tragen. Beim Kartoffelausmachen haben wir natürlich mit Dr. Raupbach hochpolitische Gespräche geführt – zur Erbauung unseres Geistes und zum Wohle des Körpers. Aber auch Himbeerstöcke waren zu richten und Holz zu hacken – letztlich alles zum Nutzen des Boberhauses! Unser Leben darin war spartanisch einfach, für Körper und Geist dennoch anregend und erfrischend, wir möchten fast sagen: verjüngend für den, der mit der Jugend lebt. Arpad Török, Ödenburg.“(5)

Anmerkungen:

(1) Quelle: „Ödenburger Zeitung. Unabhängiges politisches Tageblatt für alle Stände, Donnerstag, 18. Oktober 1934, Seite 1, Einzelblatt 12 Heller, monatlich 2,80 Pengö“; gemeinsam mit Freund Dieter Schulz erschlossen

(2) „deutschstämmig“ und „Reichsdeutscher“ waren seinerzeit keine ideologisch verfremdeten Begriffe, sondern sie unterschieden rein sprachlich zwischen außerhalb bzw. innerhalb der deutschen Grenze lebenden Menschen

(3) “Was Staatsmänner in fünfzehn Jahren nicht vermochten...“ meint den Zeitraum seit Waffenstillstand ab 11. November 1918 nach dem 1. Weltkrieg

(4) Feld und Garten hatten die Schlesische Jungmannschaft hinzugekauft, um die Selbstversorgung der Teilnehmer trotz sinkender öffentlicher Zuschüsse weitestgehend zu sichern.

(5) Verfasser „Arpad Török, Ödenburg“: Vor- und Familienname sind für einen ungarischen Menschen besonders typisch; „Ödenburg“ – ungarisch „Sopron“, unweit des Neusiedler Sees gelegen

Bearbeitet und eingesandt: Werner Guder, Dresden