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Wilthener Stadtanzeiger - Amtliches Mitteilungsblatt der Stadt Wilthen
Ausgabe 2/2023
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Zeichen der Zeit erkennen – Anmerkungen zum Rathaus der Stadt Löwenberg

Jeder kennt es: Die Zeit eilt dahin. Wir stehen mittendrin, suchen Spuren des Vergangenen, prägen die Gegenwart, wagen dann und wann Blicke in die Zukunft. Ist die Formulierung „Zeichen der Zeit erkennen“ etwa eine Worthülse ohne fassbaren Inhalt? Gewiss nicht – immer kommt es auf den Gegenstand an! Wenden wir uns dem ehrwürdigen historischen Rathaus der Boberstadt Löwenberg in Schlesien/Lwowek Slaski zu. Dieses stolze Bauwerk in der Mitte des Ringes wurde 1369 urkundlich erwähnt, anfangs als Handelshaus genutzt für Stoffe, Tücher und Garne der auf dem Südstrang der via regia daherkommenden Kaufleute. Gegen Zoll durften sie hier ihre Waren stapeln und verkaufen, mussten auf den Erlös Steuern entrichten. In anderen Quellen heißt es, dass jenes Gebäude bereits 1356 oder sogar 1341 bestanden hätte, ebenso dem Handel dienend. Sein ursprüngliches Aussehen ist nicht nachgewiesen, aber es dürfte sehr früh oder vielleicht von Anfang an der Stilepoche Gotik angehört haben, die die Romanik um 1150 abzulösen begann. E i n Bauwerk – unterschiedliche Ersterwähnungen (1369, 1356, 1341) sind weder in Löwenberg/Schlesien noch anderswo eine Seltenheit, denn auch Löwenbergs Stadterhebung nach Magdeburger Recht durch Henryk I. 1209 (deutsche Meinung) bzw. 1217 (polnische Deutung) ist hierfür anzuführen. Zeichen vergangener Zeit: Zwar gewissenhafte Beurkundungen auf feinem Pergament, aber bekanntlich ist es menschlich, wenn sich Fehler einschleichen oder Täuschungen veranlasst wurden, die späteren Generationen unlösbare Rätsel auferlegen.

Keine Kirche, kein Rathaus, kein anderes Gebäude, vor denen verheerende Brände haltgemacht hätten! Historiker haben allein für das Rathaus Löwenberg sechs mittelalterliche Feuersbrünste nachgewiesen, am heftigsten der Stadtbrand im Jahr 1518, der lediglich die rechteckigen Rathausgrundmauern zurückließ. Bereits 1520 war der Wiederaufbau vollbracht, bevor der schlesische Landesbaumeister und Ratsbaumeister zu Görlitz, Wendel Roskopf d. Ä., von Beruf Steinmetz, wohl dem Löwenberger Rathausinneren die spätgotische Pracht verlieh in Form der bis heute bestehenden vier kunstvollen Schlingrippengewölbe: im Erdgeschoss der Ratssitzungssaal, die Eingangshalle (Abbildung) und der Deputationssaal; ein weiteres im Obergeschoß. Wir können davon ausgehen, dass es in der Tat kein anderer als Meister Wendel Roskopf (1485 – 1549) gewesen ist, der um 1523 diese Leistungen vollbracht haben wird, zumal er hier in Löwenberg sein Handwerkerzeichen genauso hinterlassen hat wie in Breslau, Bunzlau, Görlitz oder Prag. Sein Bildnis und sein Siegel sind jedoch unbekannt. Ebenso wurden bis jetzt keine seiner Bauunterlagen entdeckt. Doch noch ein anderer Name spielte in jener Zeit für das Löwenberger Rathaus eine bedeutende Rolle - der des Thomas Lindner, dessen Initialen noch heute im Löwenberger Rathaus sichtbar sind. Er war Steinmetz, Werkmeister, Baumeister und Architekt in einer Person und hat für Schlesien viel geleistet. Wie auch immer – seit rund fünfhundert Jahren prägen die Stilepochen Spätgotik und Renaissance halb und halb das schöne Rathaus mit mittelalterlichem Turm und daran angelehnter Freitreppe.

Einen ganzen Raum überspannende Schlingrippen treten ab etwa dem Jahr 1500 in Löwenberg und ebenso in der Erasmuskapelle des Berliner Schlosses, in der Landhauskapelle Wien, Rotbergkapelle im Münster zu Basel, Schlosskapelle Dresden oder auch im Rathaus Bunzlau auf. Sie waren seinerzeit ästhetische Zeichen, Zeichen der Würde und der Repräsentation! Auch “unser“ Städtchen Löwenberg bleibt somit wie die vorgenannten „Großen“ angesehen wegen der vier Schlingrippensäle im Rathaus, nach dem Breslauer Rathaus das zweitschönste in ganz Schlesien!

Wagen wir nun erneut einen riesigen zeitlichen Sprung, um weitere Zeichen der Zeit zu erkennen und zu würdigen: Von 1903 bis 1905 erfüllte der berühmte Architekt Professor Hans Poelzig, seinerzeit junger Direktor der Königlichen Kunst- und Kunstgewerbeschule zu Breslau, den Auftrag des Löwenberger Stadtrates, ihr Rathaus so umzubauen, wie er die Ausschreibung als einer von dreiundsechzig Bewerbern gewonnen hatte. Da wir das bereits an anderer Stelle dargestellt haben, sei hier die Kurzform der Anforderungen aufgezeigt: vollkommene Neugestaltung der Rathausnordseite (bislang standen dort „angeklebte“ Wohnhäuschen, Kramhäuser genannt) im Architekturstil der Renaissance („Wiedergeburt“, von 1400 bis etwa 1600 vorherrschend); repräsentativen Zugangsbereich an der Nordostseite des Rathauses schaffen; historische Bestandteile aufwerten; Dokumentieren der altgotischen Schlingrippengewölbe... Nachdem Poelzig seine Arbeiten am 25. Mai 1905 zur vollsten Zufriedenheit des Rates und der Bevölkerung vollendet hatte, sprechen wir - und dies trotz der verheerenden Kriegstage im Februar 1945 - vom Zusammenführen dreier Architekturepochen: Renaissance, Spätgotik, schlesischer Heimatstil. Dies ist nur ihm gelungen! Letzteres kommt, wenngleich im Jugendstil gehalten, in einigen Elementen des Trauungssaales oder Hochzeitzimmers zum Ausdruck, das Architekt Hans Poelzig 1908 der Löwenberger Einwohnerschaft aus reiner Verbundenheit mit ihr schenkte und bis heute eine Attraktion, ein markantes Zeichen jener Zeit geblieben ist.

Dass Poelzig, seine Kollegen und Studenten das Löwenberger Rathaus detailliert ausmaßen, skizzierten und zeichneten, also gewissenhaft dokumentierten, erlangte wiederum etwa fünfzig Jahre später einen zunächst verborgenen Sinn: Im Februar 1945 erfasste der Zweite Weltkrieg auch Löwenberg, nach Goldberg die zweitälteste niederschlesische Stadt. Große Teile der Innenstadt versanken vor den Augen der zutiefst erschütterten und fassungslosen Menschen in Trümmern oder wurden danach abgerissen. Die Schäden am Rathaus waren zwar nicht gering, aber sie konnten von polnischen Restauratoren dank der Poelzigschen Skizzen und Zeichnungen so ausgeglichen werden, dass bis 1959 das wunderschöne Vorbild in vollendeter Form wiederentstand. Dieses eindrucksvolle Zeichen der Nachkriegszeit wird dem Architekten Jozef Maczinski zugeschrieben, aber im Schriftgut taucht er (bisher) nirgendwo auf. Auf polnischer wie auf deutscher Seite wird jetzt recherchiert, denn Zeichen der Zeit beruhen immer auf einem von Menschenhand geschaffenen Hintergrund.

Langfristig wurde dortiges Rathaus auf das 800. Stadtjubiläum im Jahr 2017 eingestimmt und gründlich saniert, die Fassaden erhielten frische Anstriche, tagtäglich 12.00 Uhr ertönt vom Turm Fanfarenmusik, komponiert von einem Lehrer des örtlichen Gymnasiums ... moderne Zeichen der Zeit am Rathaus zu Löwenberg.

Werner Guder, Städtepartnerschaftsverein Heidenau e. V.; werner.guder@gmx.de