Ob ich eine Geschichte schreiben könnte über Altentreptow, fragte mich freundlich lächelnd die junge Bibliothekarin, es handle sich um einen Schreibwettbewerb. Was habe ich mit diesem Städtchen an der Tollense zu tun, überlegte ich, was verbindet mich mit diesem Ort? Bin selbst kein Hiesiger, es hat mich sozusagen hierher verschlagen nach Meck-Pomm. Das ist allerdings schon einige Jahre her, ein Gehöft in einem Ausbau stand zum Verkauf, allein gelegen ohne direkte Nachbarn, bezahlbar, wo in unserer Republik findet man sowas! Dazu die Weite und Schlichtheit des Landes, in die wir uns rasch verliebt haben. Altentreptow war allerdings nicht unbedingt Ziel unserer Ausflüge, der Notar war dort, der Personalausweis musste verlängert werden, kleine Besorgungen ab und zu, mehr war da nicht.
Und irgendwann die Entdeckung der Bibliothek, wo wir hilfsbereit immer mit Lesestoff versorgt wurden, um die dunkle Jahreszeit zu überstehen. Dabei hätte es bleiben können, wenn nicht eines Tages von höchster Stelle der schicksalshafte Ausspruch „Wir schaffen das" zu vernehmen gewesen wäre. Erstaunt beobachteten wir, wie sich schlagartig bei Ämtern, Vereinen und Organisationen eine fieberhafte Geschäftigkeit entwickelte, um die Folgen, die dieser Ausspruch für den Landkreis mit sich bringen würde, möglichst schnell und effektiv in den Griff zu bekommen. Unterkünfte wurden gesucht für die angekündigten Flüchtlinge, Verantwortliche wurden benannt, Verwaltungsstellen eingerichtet und man rief nach Lehrern.
So geschah es, dass ich auf einmal vor fünfzehn ratlos bis ängstlich drein blickenden, fremdländischen Kindern und Jugendlichen stand, drei der Mädchen trugen Kopftuch. Ich wurde mit einer völlig anderen Welt konfrontiert, und lernte Namen kennen, die ich noch nie gehört hatte, Hassan, Hanin, Mohammed, Alaa und wie sie alle hießen. Sie wollten oder sollten mit der deutschen Sprache und der damit verbundenen Denk- und Weltanschauung vertraut gemacht werden. Die Schule von Altentreptow hatte sie aufgenommen, sie mussten der hierzulange üblichen Schulpflicht genügen.
Für ein ganzes Schuljahr verließ ich wöchentlich einige Tage das stille Gehöft Richtung Altentreptow, durchquerte den Ort und fuhr hinauf zur Schule. Die anfängliche Ängstlichkeit meiner Schüler hatte sich bald gelegt und es empfing mich gewöhnlich ein lebhaftes Stimmengewirr im Klassenzimmer, zu verstehen war natürlich kein Wort, sie redeten in ihrer Heimatsprache. Es dauerte nicht allzu lange und die Kinder wussten sich auf Deutsch verständlich zu machen, vor allem dann, wenn sie etwas erreichen wollten. Wie den Schülern in den meisten Ländern ging es auch diesen Flüchtlingskindern ab und zu darum, das strenge und mühsame Lernen von Wörtern und Grammatik zu unterbrechen. Bot ich ihnen dann an, auf den Wochenmarkt zu gehen, um dort die bereits erworbenen Sprachkenntnisse auszuprobieren, waren sie dafür seltsamerweise nicht zu begeistern. Vor allem die Jüngeren, Noseiba, Fatima und Abdulwadud, hatten einen ganz anderen Vorschlag. Sie baten darum, zum Großen Stein gehen zu dürfen. Großer Stein? Keine Ahnung, wovon sie redeten, hatte ich noch nie gehört.
Doch die Kinder wussten genau, wo diese - wie ich inzwischen weiß - Sehenswürdigkeit der Stadt zu finden ist. Was sie dort wollten? Genau konnten sie mir diese Frage nicht beantworten. Wir gingen also hin und mein erster Eindruck: Dieser gewaltige Stein, dieser Urzeitriese, wie er da liegt, strahlte Sicherheit aus, Verlässlichkeit, Gleichmut. Was mochte er schon alles Schreckliches „erlebt und überlebt" haben? Wie diese Kinder, die vor dem Krieg in Syrien geflohen waren, aus den zerbombten Städten und manche hatten ihre Eltern verloren. Die hilflos in Panik verfielen, wenn zufällig ein Rettungshubschrauber über Altentreptow flog.
Wirft man einen Blick auf die Geschichte der Stadt, stößt man durch die Jahrhunderte immer wieder auf schlimme Ereignisse. Zwei Stadtbrände 1527 und 1569, der schlimme Hagel am 25. Juni 1775, 1812 die napoleonischen Truppen, die auf ihrem Marsch nach Russland vorbeizogen, 1869 dann die Cholera, bei der 63 Treptower starben und schließlich der 29. April 1945, der Einmarsch der sowjetischen Truppen, all das hat es nicht vermocht den Großen Stein aus seiner Ruhe zu bringen. Das Leben ist jedes Mal weitergegangen. Vielleicht war es das, was dieser Stein den Kindern unbewusst gab, einen Trost, dass irgendwie alles weitergehen würde: Sie würden einen Weg finden, würden ein neues, anderes Leben beginnen. Ein Leben in Frieden. Wie lange dieser Findling nun schon in Frieden an seinem Platz liegt? Ich weiß es nicht. Doch seit einiger Zeit liest man regelmäßig im Amtsblättchen, dass die Stadtväter planen, den „größten Findling auf dem
Festland in Norddeutschland" aus seinem unscheinbaren Ruheplatz fortzuschaffen, hinauf auf den Klosterberg. Dort wäre es dann vorbei mit der Ruhe des Urzeitriesen. Doch wahrscheinlich wird er seiner Hebung mit derselben Gelassenheit entgegensehen wie allen Ereignissen im Laufe seiner Geschichte.