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Barther Boddenblick
Ausgabe 10/2023
Nichtamtlicher Teil
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Puppenwagen aus Barth-Stein

Schreiben der Korbflechterei vom Juli 1951 an die Barther Stadtveraltung

Wer hätte das gedacht

Die sowjetische Militärverwaltung übergab am 30. Januar 1947 das bis dahin von ihr besetzte einstige Bereitschaftslager der Pommerschen Industriewerke (PIW) an die deutsche Selbstverwaltung. Dadurch konnte den Heimatvertriebenen und Flüchtlingen nun nach und nach eine Unterkunft zur Verfügung gestellt werden. Das Problem der Unterbringung von Flüchtlingen bestand bekanntlich nicht nur in Barth, sondern in anderen Städten und Dörfern in gleichem Maße. Und sie alle brauchten auch Arbeit. Daher wurde ab Februar 1947 eine sogenannte Heimarbeitindustrie initiiert. Diese verfolgte in erster Linie den Zweck, alleinstehenden Umsiedlerfrauen, hausgebundenen Müttern und kriegsversehrten, nicht mehr voll einsatzfähigen Personen in Arbeitsgemeinschaften eine Existenzgrundlage zu ermöglichen. Die Landesregierung stellte dafür entsprechende Mittel bereit. Durch die Gewährung von Anlernbeihilfen war es möglich, auch die in Dorfgemeinschaften geschaffene Heimarbeit zu fördern. Es war von Beginn an beabsichtigt, die Heimarbeit zu Produktionsgenossenschaften zusammenzufassen.

Auf dieser Grundlage begann 1947 in Barth-Stein also eine Korbflechterei mit ihrer Arbeit. Im nördlichen Teil des größeren Gebäudes gleich links im heutigen Eschenweg hatte man die entsprechenden Produktionsräume eingerichtet. Dazu gehörte auch eine Tischlerei, mit Herrn Böhm als deren Chef. Seine Ehefrau, Frau Böhm, war damals übrigens die Verkaufsstellenleiterin des dortigen Konsumladens. Zunächst als sogenannte Heimindustrie ins Leben gerufen, gründete man bald darauf eine Genossenschaft, die 1950 vom KWU (Komunale Wirtschafts Unternehmen), Vorläufer von VEB, übernommen wurde.

Was wurde hier produziert? Nun könnte man meinen, es seien so kurz nach Kriegsende nur Gebrauchsgüter, wie schlichte Weidenkörbe für die Industrie und Landwirtschaft hergestellt worden. Dem war jedoch nicht so. Das Sortiment hatte, den damaligen wirtschaftlichen Zwängen geschuldet, zwar eine relativ überschaubare Vielfalt, doch gefertigt wurden der damaligen Mode nachkommend, und soweit machbar, auch geflochtene Wannen für Kinder- bzw. Babywagen. Weiterhin stellte man Tragekörbe und kleine Körbchen her. Unter den fleißigen und geschickten Hände vieler Frauen und Männer verließen bis etwa 1970 die in der ganzen DDR so beliebten und begehrten Korbwaren.

Ein Schreiben vom Sommer des Jahres 1954, das sich im Archiv befindet, beinhaltet noch etwas Überraschendes. Die Korbflechterei wandte sich darin hilfesuchend an die Abteilung Wirtschaft und Arbeit beim Rat der Stadt. Es ging um´s Geld. Das als Überraschendes Benannte findet sich im letzten Satz. Dort liest man: "Um in den nächsten Tagen einen Abschluss über Lieferung von 500 Stück Puppenwagen, Wert 5.500 DM zur Lieferung Ende Oktober, tätigen zu können, dieser jedoch auch von den Umlaufmitteln und der Holzfrage abhängig ist, bitten wir um baldmöglichste Stellungnahme."

Puppenwagen aus Barth-Stein, dem heutigen Tannenheim? So kurz nach Kriegsende? Wer hätte das gedacht?

Rüdiger Pfäffle