1 Reinnoldtschen Speicher in der Gödenstraße
2 Speichergebäudeensemble am Hafen um 1940
Während der Anfänge der Gleichstellung der Juden in Mecklenburg fasste der Kaufmann David Israel Löwenthal, gebürtig aus Bützow, den Entschluss zu einem Neuanfang. Er zog in die rund 24 Kilometer entfernte Stadt Sternberg, wo er sich rasch etablierte. Mit Mut und Weitblick eröffnete er ein Geschäft, stellte mehrere Handlungsgehilfen ein und schuf sich so eine stabile Grundlage. Sein Ansehen wuchs, und er wurde zu einem respektierten Mitglied der lokalen Kaufmannschaft.
In Sternberg heiratete er Amalie Josephy, und am 29. Mai 1821 wurde ihr gemeinsamer Sohn Joseph Jacob Löwenthal geboren. Schon in jungen Jahren verließ Joseph Sternberg und kehrte nach Bützow zurück, dem Herkunftsort seines Vaters. Dort absolvierte er seine kaufmännische Ausbildung im Unternehmen der traditionsreichen Familie Ahron. Am 1. Juli 1854 wagte der damals 33-Jährige einen mutigen Schritt, der das wirtschaftliche Bild Mecklenburgs nachhaltig verändern sollte. Gemeinsam mit seinem Partner und späteren Schwager Semmy Hans Nord aus Hamburg gründete er die offene Getreidehandelsfirma „Joseph Löwenthal & Co.“ in Bützow.
Die Anfangsbedingungen waren alles andere als ideal. Sie mieteten einen Fachwerkbau in der Gödenstraße, den Reinnoldtschen Speicher, der ursprünglich als Manufakturwarenlager vorgesehen war. Das Gebäude mit seinem markanten Krüppelwalmdach und den kaum für schwere Lasten ausgelegten Decken stellte eine echte Herausforderung dar. Zudem funktionierte der Aufzug nur über eine Handwinde, und die Konkurrenz der etablierten „Gebrüder Ahron“ war übermächtig. Doch Löwenthal und Nord setzten alles auf eine Karte. Mit unerschütterlichem Mut und visionärem Ehrgeiz wagten sie den Schritt ins Unbekannte. Bereits nach wenigen Jahren mussten sie jedoch erkennen, dass ihre Ressourcen und Möglichkeiten begrenzt waren. Die Entscheidung fiel 1860, den Firmensitz nach Schwerin zu verlegen und das Unternehmen weiterhin unter einem neuen Namen „Löwenthal, Nord & Co.“ zu führen.
In Schwerin erwarben sie einen Speicher in der Paulstraße, den sie kontinuierlich erweiterten und modernisierten, um den steigenden Anforderungen gerecht zu werden. Dieser strategische Schritt markierte den Beginn einer beispiellosen Erfolgsgeschichte, die sich zu einer der bedeutendsten Unternehmungen Norddeutschlands entwickeln sollte. Innerhalb weniger Jahrzehnte avancierte das Unternehmen zur größten Getreidegroßhandlung Norddeutschlands und festigte seinen Ruf als führender Akteur in der Branche.
Das Unternehmen expandierte rasant: Niederlassungen in Sternberg, Bützow, Goldberg, Lübeck, Rostock und Reinfeld entstanden, und eigene Mühlen in Schwerin sowie Wittenburg wurden gebaut oder erworben. Das Sortiment wurde um Düngemittel, Futtermittel, Sämereien und Wolle erweitert, wodurch die mecklenburgische Landwirtschaft nachhaltig geprägt wurde. Das weitverzweigte Netz an Speicherbauten, darunter die drei imposanten Speicher in der Severinstraße in Schwerin, zeugt noch heute vom wirtschaftlichen Einfluss der Firma.
Der Export florierte: Getreide wurde entlang der Elbe nach Hamburg verschifft und von dort aus in ganz Europa exportiert – nach Belgien, England, Frankreich, in die Niederlande und nach Skandinavien. Um 1930 beschäftigte das Unternehmen rund 120 Mitarbeiter, die Hälfte davon in Schwerin, und war ein bedeutender Arbeitgeber sowie Motor der regionalen Wirtschaft.
Nach dem Tod von Joseph Löwenthal im Jahr 1882 übernahm sein Sohn Gustav die Leitung, unterstützt von der Familie Nord. In den 1890er Jahren trat Paul Ohlerich, ein Kaufmann aus Warnemünde, ins Unternehmen ein. 1906 wurde er Mitgesellschafter, und bis 1925 hielt er ein Viertel des Kapitals. Das Unternehmen blieb bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten eines der erfolgreichsten und einflussreichsten in Mecklenburg.
Doch mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten änderte sich alles grundlegend. Das tragische Kapitel begann, als Ohlerich, ein nicht-jüdischer Teilhaber, die politische Lage sowie seine Bekanntschaft mit dem Ministerpräsidenten des Landes Mecklenburg-Schwerin, Walter Granzow, ausnutzte, um die jüdischen Partner Löwenthal und Nord schrittweise zu enteignen. Es handelte sich um eine gezielte „Arisierung“, wie die Nationalsozialisten die Verdrängung von Jüdinnen und Juden aus Handel, Gewerbe, Wohnungen, Häusern und Wissenschaft im Sinne ihrer rassistischen Ideologie bezeichneten.
1934 wurde die Landhandelsfirma „Löwenthal, Nord & Co.“ in „Ohlerich & Sohn“ umbenannt – ein Name, der den wirtschaftlichen Ausschluss der Familien Löwenthal und Nord symbolisierte. Nach der Enteignung nutzte Ohlerich die gewonnenen Mittel, um in den Ausbau seiner Geschäfte zu investieren. Eines der sichtbarsten Zeichen dieses Wandels ist der moderne Silobau am Bützower Hafen aus den Jahren 1936/37, der das 1904 errichtete Ahron-Speichergebäude ergänzte und gemeinsam ein markantes Hafengebäudeensemble bildet – ein Zeugnis einer dunklen Episode deutscher Wirtschaftsgeschichte.
Die Geschichte der Familien Löwenthal und Nord sowie ihres Unternehmens steht exemplarisch für unternehmerischen Mut, Innovationskraft und wirtschaftlichen Erfolg „Made in Bützow“. Zugleich zeigt sie jedoch auch die verheerenden Auswirkungen politischer Ideologien. Ihr Werdegang macht deutlich, wie wirtschaftlicher Fortschritt und gesellschaftlicher Wandel maßgeblich von menschlichen Entscheidungen geprägt werden – im Guten wie im Schlechten.
Fortsetzung folgt.