Titel Logo
Demminer Nachrichten
Ausgabe 14/2023
Editorial
Zurück zur vorigen Seite
Zurück zur ersten Seite der aktuellen Ausgabe

Wer ist schon normal?

Vom selbstbestimmten Leben eines Teenagers

Seit bereits knapp fünf Jahren arbeitet Nicole in einer Einrichtung für behinderte Menschen, als sie das erste Mal Mutter wird. Max kommt als gesunder Säugling 2006 zur Welt. Als er etwa drei Monate ist, fällt Nicole auf, dass etwas mit ihrem zauberhaften Baby nicht stimmt. 17 Jahre später kann ihr immer noch niemand genau sagen, unter welcher Krankheit Max leidet. Feststeht, ihm fällt das Laufen und Sprechen schwer und er hat starke, motorische Einschränkungen, sichtbar durch tremorartige Auffälligkeiten in Armen und Beinen.

Es ist ein warmer Augusttag, an dem ich die beiden besuchen darf. Nicole hat einen Tisch im Garten mit Kaffee und Keksen hergerichtet, an den wir Drei uns setzen. Auf der einen Seite ich, auf der anderen Nicole und ihr Sohn. Nicole, eine authentische junge Frau mit zauberhaftem Lächeln und Max ein 17-jähriger junger Mann, der dem in nichts nachsteht. Nur eins fällt mir sofort auf. Max sitzt auf seinen Händen und seine Mutter gibt ihm zu trinken und zu essen. Später verstehe ich warum.

Es ist Nicole, die sich an mich gewandt hat. Sie möchte mir ihre Geschichte erzählen. Um Inklusion soll es gehen, sagt sie. Also da bin ich und ohne viel Smalltalk erzählt mir Nicole aus dem Leben von Max und ihr.

Mehr als sechs Jahre lebt die glückliche Patchwork- Familie hier. Nicole, Max, Nicoles Mann und zeitweise dessen Sohn. „Max Papa und ich haben uns vor Jahren getrennt. Ich lebte mit Max einige Jahre allein. Das war sicher nicht immer einfach, aber wir haben die Zeit zu zweit sehr genossen. Wir haben eine wirklich tiefe Bindung zueinander und merken immer gegenseitig, wenn etwas nicht stimmt. Max hat eine wirklich gute Selbsteinschätzung und mir war es immer sehr wichtig ihm ein normales Leben zu ermöglichen.“, berichtet Nicole.

Dazu zählt auch, dass sie mit Max zu regelmäßigen Untersuchungen geht und alle Möglichkeiten nutzt, damit sich Max gesundheitlicher Zustand nicht verschlechtert. Sein „Tremor“ ist über die Jahre immer schlimmer geworden. Allein essen und trinken ist ihm aufgrund des dauernden starken Zitterns, ähnlich wie bei Parkinson- Patienten, nicht mehr möglich. Daher sitzt Max während unseres Gespräches auf seinen Händen. Anders ist es ihm nicht möglich dieses Zittern zu kontrollieren.

„Bis heute wissen wir nicht zu 100% was Max hat. Die Ärzte sind immer noch am Forschen.“, sagt Nicole. Nicht zuletzt durch ihre über 22-jährige Arbeit mit behinderten Menschen macht sie wohl bei diesem Gespräch einen ganz gesetzten und bestimmten Eindruck. Man merkt sofort, dass diese Frau nichts so schnell erschüttert. Zu viel hat sie schon erlebt und gesehen.

Umso mehr hat es sie wohl selbst erschrocken, als sie vor Wochen einen Brief vom Jugendamt in ihrem Briefkasten mit dringender Rückrufbitte fand. „Die Frau vom Jugendamt sprach von einer Anzeige wegen Kindeswohlgefährdung. Ich konnte gar nicht verstehen, was da gerade passiert.“, erzählt Nicole. Ihre Unsicherheit, Angst, aber vor allem ihre Enttäuschung machen sich plötzlich bemerkbar.

Seit über sechs Jahren wohnen Nicole und ihre Familie nun in diesem Haus. Die Nachbarn in der Gegend kennen Max. Es gibt liebe Menschen dort, die Max integrieren und ihn so akzeptieren wie er ist. Einfache, lebenspraktische Dinge, sowie das Bezahlen an der Kasse gelingen Max nur selten. „Es ist ihm dann sehr unangenehm, wenn er das Geld nicht halten kann und es runterfällt.“, so Nicole.

Somit fährt sie regelmäßig in die anliegenden Geschäfte, holt sich Informationen oder bezahlt im Voraus, damit sich Max selbstständig etwas holen kann.

Diese Frau kümmert sich rührend um ihr Kind. Man spürt die tiefe Zuneigung von Max zu seiner Mutter. Also wieso diese Anzeige, frage ich mich.

Nicole erzählt, dass in den darauffolgenden Tagen zwei Mitarbeiter des Jugendamtes bei ihr erschienen sind, um sich über die „Zustände“ zuhause zu erkundigen.

„Können sie sich vorstellen, wie sich das angefühlt hat?“, fragt mich Nicole. Erst jetzt erfährt Nicole, worum es bei der Anzeige geht. 17 Jahre hat sie versucht Max ein normales Leben zu bieten. Gibt ihm die Möglichkeit sich selbst zu entfalten, weil sie ihrem Sohn vertraut. Max hat körperliche Einschränkungen, die es ihm verbieten Sport oder ähnliches wie andere Jugendliche in seinem Alter zu unternehmen.

Es gibt nur eine Sache, die er kann, obwohl sogar die Ärzte sagen es sei nicht möglich. Seine Freiheit, die er sich selbstbestimmt nehmen kann. Max fährt sehr gern Fahrrad. „Max fährt dann Fahrrad, wenn er sich dazu in der Lage fühlt. Er kann das selbst gut einschätzen. Wenn es ihm schlecht geht, dann lässt er es stehen. Er fährt nur hier in der Gegend, gewohnte Strecken, mit Helm und er fällt nicht mehr als andere Kinder. Er nimmt sein Handy mit und ist überall erreichbar. Den einzigen Vorwurf den ich mir mache ist, dass er ein, zwei Mal ohne Helm gefahren ist. Einfach nur, weil er losgefahren ist, als ich auf dem Heimweg war und er aufgrund des „Tremors“ nicht selbstständig den Gurt des Helmes schließen konnte. Er ist 17, ich kann und will ihm das nicht verbieten.“, erklärt Nicole.

In der anonymen Anzeige wegen Kindeswohlgefährdung geht es aber genau darum. Nicole lässt Max Fahrrad fahren. Das würde er laut Anzeige sehr unsicher tun. Manchmal hätte er keinen Helm auf. Was laut Nicole stimmt. „Er hat mittlerweile einen neuen Helm, den er auch selbst schließen kann.“, sagt sie.

„Wir reden immer alle über Inklusion. Warum zeigt man mich an und fragt nicht einfach direkt nach? Es muss ja jemand gewesen sein, der uns kennt. Das macht mich so unfassbar traurig. Und Max erst. Dass das Jugendamt reagiert hat, ist völlig richtig, aber wie oft werden Kinder vernachlässigt oder misshandelt und niemand tut etwas. Ich erlaube meinen 17-jährigen Sohn selbstbestimmt zu leben, versuche ihn nicht von anderen abzugrenzen und werde angezeigt, weil er unsicher Fahrrad fährt!?“, spricht sie den Tränen nahe.

Nun verstehe ich, worum es dieser Frau geht, was sie so bewegt. „Ich möchte darüber öffentlich reden, weil es sicher mehr Menschen mit ähnlichen Lebensumständen so ergeht und ich möchte ihnen Mut machen weiterzumachen, ihren Angehörigen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, Inklusion zu leben und alle anderen möchte ich ermutigen, Fragen zu stellen und nicht einfach zu urteilen, denn das kann viel zerstören, was jahrelang aufgebaut wurde. Ich liebe mein Kind über alles und bin sehr stolz auf ihn, da er trotz seiner Behinderung ein sehr selbstbewusster junger Mann ist. Ich möchte nicht, dass er über seine Behinderung definiert wird oder diese sein Leben bestimmt.“, macht sie deutlich.

Zwei Stunden Gespräch liegen hinter uns. Ich bin tief beeindruckt von der Aufrichtigkeit des Gespräches und zugleich tief betroffen von dem täglichen Kampf der beiden, um einen „normalen“ Platz in der Gesellschaft.

Nancy Klevenow