Gitta Lindemann „Meine Fensterplätze“, Lesung und Gespräch am 6. September 2024, 19:00 Uhr im Haus des Gastes Feldberg, Moderation: Carsten Gansel
Vor drei Jahren besuchte uns die Autorin und ehemalige Rundfunkjournalistin Gitta Lindemann, um den Lebensbericht ihres verstorbenen Mannes „Die Beichte“ vorzustellen.
Es waren Aufzeichnungen des Poeten und Lyrikers Werner Lindemann aus den Jahren 1945 bis 1949, in denen es um seine „Metamorphose vom Stahlhelmträger zum Verseschreiber“ geht.
Die Veranstaltung war so anregend im Gespräch und Austausch, dass Gitta Lindemann zum Ausklang des Abends eine eigene Geschichte vorlas. Es ging um die Schwierigkeiten von Frauen, untereinander Freundschaften zu pflegen. Sehr locker, sehr humorvoll in der Balance zur Ironie und so wunderbar vorgetragen, dass der Kulturverein mit der Autorin eine Lesung ihrer eigenen Prosa verabredete, nichts ahnend, dass bereits der Verleger des Okapi-Verlag in Person von Carsten Gansel bereits eine Publikation vorgesehen hatte.
2023 erschien dann „Meine Fensterplätze“ mit ihrer Kurzprosa, mit Tagebuchaufzeichnungen und Notizen, wieder vom Okapi Verlag ediert, bedacht komponiert und fein aufgemacht und mit anmutigen Illustrationen der Malerin Rosa Loy, eng verbandelt mit der Leipziger Schule um Neo Rauch.
Gitta Lindemann hat aufgeschrieben, was ihr in der Wendezeit passierte, wie es ihr erging. Für sie ein Sturz aus einem „Elfenbeinturm“: In der Drispether Künstlerenklave von Schriftstellern und Malern umgeben, auf einem idyllisch gelegenen Bauernhof inmitten von der LPG bestellten Feldern, mit ihrer Familie, sie freischaffend für ihren Sender tätig, ihr Mann ein gefragter Schriftsteller und Vorleser in Schulen und Bibliotheken.
Ihr Sturz aus der relativen Behütetheit war umso heftiger, als ihr Land DDR, ihre Heimat, wie sie schreibt, „flöten“ ging. Der Mann an ihrer Seite ohne Auftrag und Honorar, Restitutionsansprüche auf ihr Gehöft, sie plötzlich die Alleinernährerin mit der ständigen Furcht, Brot und Arbeit zu verlieren, ihr Mann stirbt. Existentiell bedroht und ihrer Ideale beraubt, fühlt sie sich fremd unter den veränderten Verhältnissen im eigenen Land, kann sie die Euphorie um die deutsche Einheit nicht teilen. Wie so viele der 17 Millionen DDR-Bürger steht sie vor der Frage: Wie soll es weitergehen? Was ist meine Biografie wert?
In dieser Phase des gesellschaftlichen und sozialen Umbruchs, in der viele Menschen mit ihren Ängsten und ihrer Neugier auf das Kommende nach Halt und Sicherheit suchten, eröffneten sich für Gitta Lindemann unerwartete Möglichkeiten: Sie wird Chefredakteurin im NDR, traut sich was zu, sie moderiert Sendereihen wie „Literaten im Kreuzverhör“ und das „Literaturcafe“. Sie ist dabei, sich neu zu erfinden. Das Drispether Haus und die Familie bleiben bewahrt, die Freiheiten des Reisens vermitteln ihr ungeahnte Eindrücke, wie auch die Tatsache, dass ihr Sohn mit seiner „Rammstein“-Crew ein Weltstar geworden ist.
Gitta Lindemanns Ausblicke ergehen sich nicht in wendegewandter Selbstvergessenheit. Im Gegenteil: Hier traut sich eine nicht nur aus ihrem Fenster zu schauen, sondern in sich zu gehen: „Wer war ich, wer bin ich gewesen in den achtzig Jahren meines Lebens, wer war ich als Journalistin, als Frau, als Mutter.“ Mitunter unnachsichtig kritisch: Sie spricht von Lebenslügen und vom „Wegmogeln“, sowohl in ihrer Arbeit als auch in ihrer Liebe.
Wie viele in ihrer Generation war auch Gitta Lindemann, kriegstraumatisiert und doch voller Zuversicht, am Aufbau der DDR beteiligt, war anders mit deren Idealen verknüpft als die Nachgeborenen und umso enttäuschter ob ihres Niedergangs.
Gitta Lindemanns Resümee: „Versäumt, vermasselt, gekämpft, gestritten, glücklich verloren oder unglücklich gesiegt – leben, ja leben kann man nie genug. Aber man sollte seine Haltung in den Ring werfen“.
Carsten Gansel, der kürzlich im Haus des Gastes seine Brigitte-Reimann-Biografie „Ich bin so gierig nach Leben“ vorstellte, wird Gitta Lindemann auch an diesem Abend moderierend begleiten.
Eintritt frei, Spenden werden erbeten
geb. 1939 in Dresden, lebt und arbeitet in Wendisch-Rambow
ehemalige Rundfunk-Journalistin, Radio MV9, und leitende Chefredakteurin im NDR und Moderatorin des „Literaturcafé“
„Meine Heimat geht gerade flöten. Ich fühle mich fremd...“ schreibt Gitta Lindemann in ihr Drispether Tagebuch im Jahr 1990, um 30 Jahre später über ihr Leben in der DDR zu resümieren: „Mein Land, meine Liebe, meine Lebenslüge.“
Ihr Buch „Meine Fensterplätze“, im Okapi-Verlag von Carsten Gansel 2023 erschienen, ist Gitta Lindemanns Lebensbeichte. Sie wirft einen Blick zurück in ihr erfülltes Berufsleben in der DDR, als Rundfunkjournalistin und im Kreis der Drispether Künstlergemeinde, auf die Wende mit deren Umbrüchen und Verunsicherungen - auch im Privaten spürbar: der Verlust ihres Hauses, ihre brüchige Ehe, der Tod ihres Mannes, des Schriftstellers Werner Lindemann. Dabei immer auf der Suche: „Wer bin ich gewesen, und wer bin ich heute.“ Auch nach achtzig Lebensjahren, den Konflikten zweier Gesellschaftsmodelle trotz alledem: viel Liebe und auch Nachsicht mit sich und den Menschen, mit einem Blick nach vorn: „leben, ja, leben kann man nie genug. Aber man sollte seine Haltung in den Ring werfen“.
geb. 1955 in Güstrow, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Uni Gießen, Lehrtätigkeiten an versch. Hochschulen, Inhaber des Okapi-Verlages, bekannt durch zahlreiche Bücher zur deutschsprachigen Literatur, zuletzt durch die Brigitte-Reimann-Biografie „Ich bin so gierig nach Leben“ (2023),
geb. 1958 in Zwickau, international beachtete Leipziger Malerin