In unserer schnelllebigen Zeit sind fünfundzwanzig Jahre schon eine große Zeitspanne. Wenn man nicht innehält, verfliegen selbst tiefe Erinnerungen im aufgewühlten Meer der sich überschlagenden Ereignisse. „Weißt du noch?“, so hatte man früher einander gefragt, um wichtige Ereignisse dem Vergessen zu entreißen. „Weißt du noch, als wir uns verliebten und uns Briefe schrieben?“ Internet, Mails, WhatsApps, Facebook, Youtube, Instagam, Twitter etc. waren damals noch Fremdwörter. Die Frage „Weißt du noch?“, war normal… „Weißt du noch, als wir auf die Straße gingen, um für Freiheit zu kämpfen“. „Weißt du noch als die Mauer fiel?“
Weißt du noch, als unsere Kinder vor der Jahrtausendwende auf die Welt kamen? Nicht? Alles schon verschluckt von einem verrückt gewordenen Zeitraffer?
Also, es sind jetzt gerade fünfundzwanzig Jahre her, da ein Telefonanruf einen ehemaligen Jugendlichen aus Loitz erreichte und ihm die Frage gestellt wurde, ob er verwandt sei mit Brigitte Irrgang. Mit diesem Telefonat wurde unsere Brigitte Irrgang plötzlich in das Rampenlicht der Öffentlichkeit geholt, und die Stadt Loitz wurde überregional und sogar international bekannt. Dieser Anruf betraf mich.
Nun der Reihe nach. Es sind inzwischen fast 69 Jahre her, da die Stadt Loitz in eine Art Schockzustand des Entsetzens geriet. Die noch nicht einmal zwölfjährige Brigitte wurde von einem Triebtäter überfallen und – wie man damals meinte – vergewaltigt und getötet. Die forensische Medizin konnte nachweisen, dass der Täter durch die Gegenwehr des Mädchens nicht zu seinem Ziel gekommen war, allerdings um den Preis ihres Lebens. Diese Ereignisse haben die Loitzer nicht vergessen. Brigittes Grab auf dem Kamp-Friedhof war über vier, fünf Jahrzehnte das am meisten gepflegte Grab. Etliche Loitzer Familien sorgten für das Grab nach der Flucht der Familie Irrgang in die Bundesrepublik. Aber mit der Wende erlebte dieses Gedenken nochmals einen kräftigen Schub. Angehörige von Brigitte und Freunde besuchten Brigittes Grab. Ihr Gedenken ließ nicht nach, sogar Jungendgruppen aus dem „Westen“ kamen nach Loitz. Aber auch in Vorpommern spürte man Veränderungen.
Man spürte die Beschleunigung der Ereignisse um uns herum und manche liebe, aber auch traurige Erinnerungen fielen dem neuen Tempo des Lebens zum Opfer. Dieses Schicksal wäre vermutlich auch jenem 29. September 1954 widerfahren, als Brigitte getötet wurde. Aber es kam anders!
Anfang September 1998 ließ der Beauftragte der Deutschen Bischofskonferenz für die Aufzeichnung der Märtyrer des 20. Jahrhunderts, Prälat Prof. Dr. Helmut Moll, den Jüngsten der Geschwister Irrgang, also mich, anrufen mit jener Anfrage, ob er mit Brigitte verwandt sei. Da dieser das bejahte, es war ja seine Schwester, wurde er gebeten, zusammen mit seinen anderen Geschwistern den Text zu überprüfen, der von dieser Abteilung der Bischofskonferenz vorbereitet worden war. Zur Begründung hieß es lapidar: „Brigitte Irrgang ist in das Verzeichnis der Märtyrer des 20. Jahrhunderts aufgenommen worden!“ Das zweibändige Werk von Prälat Moll wurde ein Jahr später durch Kardinal Lehmann dem Papst übergeben.
Familie Irrgang war völlig „perplex“. Und es fand sich keine Erklärung, wer die Geschichte dem Vergessen entrissen hat und woher der Text stammte. Aber der Text stimmte. Die Überraschung war vollkommen. Erst fünf Jahre später kamen Antworten auf diese Fragen. Es war der Maria-Goretti-Freundeskreis in München, der die Erinnerung an Brigitte und an ihren gewaltsamen Tod in Loitz bewahrt hatte. Es stand in „Gottes Waage“, 1956. Auch dies eine faszinierende Geschichte!
Wenige Tage nach diesem Anruf überraschte diese Nachricht die katholische und die evangelische Kirchengemeinde und die Stadt Loitz. Die katholische Gemeinde von Demmin, für die Katholiken in Loitz zuständig, ordnete für den Mittwochabend, den 30. September, einen feierlichen Gottesdienst in der Maria-Goretti-Kapelle (in der Loitzer Schwedenstraße) an, um die Neuigkeit der Loitzer Öffentlichkeit zu verkünden. Anwesend waren als Vertreter der Stadt der Bürgermeister, Dr. Johannes Winter, und der Stadtarchivar, Dr. Henning Rischer, der sich noch gut an dieses Ereignis erinnern kann.
Es war der Anfang einer Geschichte, die hoffentlich nicht so schnell zu Ende geht.
Alles, was danach folgte, geht auf dieses Ereignis vor fünfundzwanzig Jahren zurück. Es sei nur an einige wenige Höhepunkte erinnert: Erste längere Veröffentlichungen in kirchlichen Zeitungen, die große Brigittefeier aus Anlass ihres 50. Todestages 2004 mit Gästen aus der Slowakei und aus Tschechien, die Errichtung eines sehenswürdigen Brigitte-Denkmals gegenüber der Diesterweg-Schule, die jährlichen Gedenktreffen seither, die Namensnennung des Weges an der Schule nach ihrem Vater Wilhelm, die Gründung eines deutschlandweiten Vereins der Brigittefreunde mit Sitz in Loitz, und - ganz außergewöhnlich - die Uraufführung des Oratoriums BRIGITTE am 11. August 2017 in der Marienkirche, durch die Loitz auch in die Musikgeschichte einging.
Schließlich entwickelte sich eine besondere Beziehung zum weltberühmten Kinder- und Erwachsenenchor Permoník aus Karvina in Nordmähren (Tschechisch-Schlesien) und mit Brigittes Geburtsort Krickerhau in der Mittelslowakei, wo eine zweisprachige Gedenktafel an Brigittes Geburtshaus an sie erinnert, in direkter Nähe zu ihrer Taufkirche. Großartig feierte die Stadt Krickerhau (Handlova) im März diesen Jahres Brigittes 80. Geburtstag zusammen mit der kleinen, aber lebendigen deutschsprachigen Gruppe diese Mittepunktstädtchens im sogenannten Vogelgebirge.
Inzwischen hat Brigitte eine eigene Website: www.brigitte-irrgang.de Und ein lnger Eintrag in der deutschen und der slowakischen Wikipedia deutet auf ihre internationale Bekanntheit hin.
Das Denkmal hat inzwischen eine schöne Stele erhalten, die die Symbolik des Denkmals erklärt. Recht hintergründig erscheint ein Wortspiel im Text: Denk – mal! Es lädt uns ein, innezuhalten und sich mitten in das Denkmal hineinzusetzen und dem rasenden Tempo unserer Zeit einen Moment der Stille und des Nachdenkens abzutrotzen. Es lädt recht lebendig ein!
Und die kommenden Brigittetage vom 29. September bis 1. Oktober werden an diese 25 Jahre bestens erinnern. Wir sind also eingeladen! Für den Festvortrag konnte Dr. Christof Sauer aus Gießen gewonnen werden, evangelischer Professor an der dortigen Freien Theologischen Hochschule. Plakate und entsprechende Flyer zum Vortrag am Sonnabendnachmittag, 30. September, 16.00 Uhr, im Kulturkonsum, Peenestr. 8, Loitz, werden weitere Hinweise geben.