Jugendliche aus dem Gymnasium Carolinum gestalteten die Gedenkfeier mit Worten und Musik.
Am 9. November wurde in Strelitz-Alt auch nach den Lehren aus der Vergangenheit gefragt.
Am 9. November erinnerten Bürgerinnen und Bürger an den 85. Jahrestag der Pogromnacht. Am Gedenkstein für die jüdische Synagoge in Strelitz-Alt hatten sich rund 50 Einwohnerinnen und Einwohner, Schüler und Vertreter der Öffentlichkeit zusammengefunden. Schülerinnen und Schüler oberer Klassen des Gymnasiums Carolinum und die Musikerin Kim Seligsohn, die die Tochter einer Shoa-Überlebenden ist, gestalteten die Gedenkfeier gemeinsam mit der Altstrelitzer Pastorin Cornelia Seidel.
Die Schüler beschrieben die Zerstörung der jüdischen Synagoge und die Plünderungen, die sich am 9. November 1938 in Altstrelitz zugetragen haben. Rechte Horden waren an jenem Abend gewaltsam in die Synagoge eingedrungen, zerstörten den Thoraschrein und andere Ausstattungen. Beim zweiten Versuch der Brandstiftung wurden Brandbeschleuniger eingesetzt, sodass das Gotteshaus niederbrannte. Die Feuerwehr unterließ es zu löschen. Einwohnerinnen und Einwohner schauten zu. Noch in derselben Nacht nahmen sich zwei Jüdinnen aus dem Stadtteil das Leben. Viele weitere Altstrelitzer und Neustrelitzer Jüdinnen und Juden starben infolge der Deportationen, brutaler Verfolgung und Ermordung durch die Nazis. Sie teilten das Schicksal von Millionen jüdischer Menschen in Hitlerdeutschland und den besetzten Teilen Europas.
Am 9. November 2023 fragten die Neustrelitzer Jugendlichen intensiv nach dem Warum. Warum war es möglich, 6 Millionen Juden zu vernichten? Warum gab es so viel Hass und Gewalt, warum wurden Menschen verfolgt? Warum gibt es in der Gesellschaft heute noch und wieder so viele Vorurteile und so viel Hass? Warum können sich Fake News so in unserem Land verbreiten?
Die Schülerinnen und Schüler fragten weiter: Was können wir tun? Ihre Antwort: „Nicht vergessen, immer erinnern, Zivilcourage zeigen, Eintreten für Menschen, die wegen ihrer Religion, Herkunft, sexueller Orientierung diskriminiert werden, miteinander reden, faschistischen Äußerungen mutig entgegentreten, unseren Kopf und unsere Phantasie benutzen - weil dem Bösen Einhalt geboten werden muss, damit so etwas wie vor 85 Jahren nicht mehr passieren kann.“
„Wir stehen auf gegen Terror und Gewalt, gegen jede Form von Antisemitismus in der Welt und in uns. Wir versuchen zu hoffen auf gerechten Frieden und Versöhnung im gesamten Nahen Osten“, so das Credo dieser Gedenkveranstaltung, das sich ebenfalls im Abschlussgebet widerspiegelte.
Anschließend war Kim Seligsohn als Gesprächspartnerin in der Alten Kachelofenfabrik zu Gast. Auf dem Programm stand ihr Film „Liebe Angst“ den sie gemeinsam mit Sandra Prechtel gedreht hat. Er erzählt die Geschichte von Kims Mutter, einer Shoa-Überlebenden, die sechs Jahre alt war, als ihre Mutter nach Auschwitz deportiert wurde. Sie ist auch sieben Jahrzehnte später noch immer eine Person, die über ihr Trauma nicht reden möchte. Ihre Tochter leidet seit ihrer Kindheit unter der Passivität der Mutter und konnte nur mit Mühe für sich einen Weg der Befreiung finden. Dennoch versucht sie immer wieder, ein Gespräch mit ihrer Mutter zu erzwingen. Der Dokumentarfilm nimmt an diesen Begegnungen teil und beleuchtet schonungslos die sich über drei Generationen erstreckende Familientragödie. Er bezeugt den Versuch eines Ablösungsprozess, der in der häufig zerrissenen Post-Shoa-Generation aber nie an ein Ende gelangt. In diesem Film zeigen die Filmemacherinnen eindrucksvoll auf, wie sehr sich Traumata von Flucht, Vertreibung und Verlust über mehrere Generationen hinweg in die Körper und Psychen derjenigen einschreiben, die überlebt haben. — (SE/PM)