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Havel-Quelle
Ausgabe 5/2023
Kultur und Freizeit
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„…doch jetzo erhascht mich das Schicksal!

Daß nicht arbeitslos in den Staub ich sinke noch ruhmlos.

Nein, erst Großes vollendend, wovon auch Künftige hören.“ (Ilias, Übersetzung von Voß)

Am 5. Mai 2023 erlebten die Besucher des Voßhauses einen besonderen Kulturfreitag. Denn der Althistoriker und langjährige Leiter des Heinrich-Schliemann-Museums in Ankershagen Dr. Reinhard Witte versammelte im Olymp gleich drei Geistesgrößen: den vermutlich von der anatolischen Westküste stammenden Sänger Homer, den namhaften Homer-Übersetzer und Mecklenburger Johann Heinrich Voß und den in Bonn geborenen überragenden Komponisten der Musikgeschichte Ludwig van Beethoven. Der anregende Abendvortrag bettete Beethovens Bewunderung der Antike zunächst in die allgemeine Griechenbegeisterung der damaligen Zeit ein. Er erinnerte an Johann Joachim Winckelmanns, Friedrich August Wolfs, Goethes und Schillers Feier griechischer Verhältnisse und die Bedeutung des kulturellen Umfelds. Beethoven lebte in kulturell reichen Städten wie Bonn und Wien. Als Bonner Student besuchte er um 1789 die Vorlesung von Eulogius Schneider über griechische Literatur. Der freiheitsliebende Professor hatte wie Voß den Sturm auf die Bastille in einem Gedicht begrüßt, daneben bewahrten auch Bauten und Bibliotheken der kurfürstlichen Residenzstadt am Rhein und der Kaiserstadt an der Donau vielfältige Erinnerungen an die klassische Epoche. Reinhard Witte merkte an, dass Beethoven die griechische Sprache nicht beherrschte, wohl aber der „Geist“ der Odyssee – in der Übertragung von Voß – ihn durch das Leben begleitete.

Beethoven hatte in seinem Exemplar von Homers „Odüßee“ (Hamburg 1781, aufbewahrt in der Berliner Staatsbibliothek) viele Stellen angemerkt. Dass Beethoven Vossens Homer bei nächtlichem Kerzenlicht oft und wiederholt las, belegen Wachsflecken in diesem Buch. Was Beethoven zu seinen Anstreichungen am Rande der Verse veranlasst haben mag, kann nur vermutet werden. Reinhard Witte legte nahe, dass Beethoven in den Texten Worte und Wendungen fand, die ihm dabei halfen, persönliche Schicksalsschläge und Nöte zu ertragen, ihn aber auch unterstützten, künstlerisch Großes zu vollbringen. Zu den berührendsten Anstreichungen zählt jene, die das Schicksal des hochgeachteten Sängers Demodokos am Hofe des Alkinos heraushebt. Der ertaubte Beethoven fühlte sich dem erblindeten Sänger schicksalsverwandt. Wie dem Komponisten Beethoven ward diesem Vertrauten der Muse „Gutes und Böses verliehn“. „Denn sie nahm ihm die Augen, und gab ihm süße Gesänge.“ (Odyssee 8, 62ff). Aus den von Reinhard Witte recherchierten Anstreichungen Beethovens in der Odyssee, die er zu biografischen und familiengeschichtlichen Details ins Verhältnis setzte, formte sich an diesem Abend ein plastisches Bild der wenig bekannten privaten Persönlichkeit Beethovens.

Andrea Rudolph, Kuratorin, Museum Alte Burg und Johann-Heinrich-Voß-Literaturhaus