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Müritz-Anzeiger
Ausgabe 24/2025
Aktuelles
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Volkstrauertag 15. November 2025

Irgendwann, irgendwo starb auf den Schlachtfeldern des 1. WK für Volk und Vaterland Karl Wuttke. Ein junger Berliner Kutscher. Ob er in Euphorie oder zögerlich in Angst für Kaiser und Vaterland in den Krieg zog, wissen wir nicht. Auf welchem „Feld der Ehre“ er sein Leben verlor, wissen wir nicht.

Wir wissen: Er hinterließ eine warme Decke aus Bärenfell, mit tiefen Taschen, so wie herrschaftliche Kutscher sie über die Knie ihrer vornehmen Kundschaft legten. Und eine junge Witwe Ida. Und eine sechsjährige Tochter Senta, die nach dem Tod des Ernährers bald die Schule verlassen musste, weil das Geld für das teure Leben in Berlin nicht reichte. Mit der kleinen Witwenrente und der Unterstützung von Freunden konnten sich Ida und Senta eines neuen Lebens im billigeren Mecklenburg aufbauen.

Für Menschen, wie meine Großmutter Senta, hatte der Volkstrauertag, der 1919 zum ersten Mal begangen wurde, daher eine andere Bedeutung als für mich heute.

Menschen brauchen einen Platz zum Trauern. Doch wie trauert man, wenn man nicht einmal ein Grab kennt? Der Volkstrauertag 1919 sollte ein Zeichen der Solidarität sein: derjenigen, die keinen Verlust zu beklagen hatten, mit denen, die um Gefallene trauerten.

1922 gab es im Reichstag die erste offizielle Gedenkveranstaltung. Dort hielt der damalige Reichstagspräsident Paul Löbe eine im In- und Ausland vielbeachtete Rede, denn er stellte einer Gegenwart voller Feindseligkeiten den Gedanken an Versöhnung und Verständigung gegenüber.

„… Leiden zu lindern, Wunden zu heilen, aber auch Tote zu ehren, Verlorene zu beklagen, bedeutet Abkehr vom Hass, bedeutet Hinkehr zur Liebe, und unsere Welt hat die Liebe not ...“

1934 wurde aus dem Volkstrauertag ein Heldengedenktag. Ab nun ging es nicht mehr um Versöhnung und Verständigung! Nun waren der tote Vater und Sohn ein Held. Aber er war immer noch tot! Noch immer suchten Witwen und Mütter nach Gräbern und Antworten.

Und alsbald sollte sich das Kriegselend wiederholen. Senta, die den Vater im 1. WK verlor, bangte nun im 2. WK um ihren Mann.

Wieder fielen Söhne, Väter, Ehemänner und Brüder in fremder Erde. Wieder flossen Meere von Tränen, zerschlugen sich Hoffnungen und Träume. Zerrissen Familien an Leid und Kummer. Und es blieb gar keine Zeit zum Trauern. Mütter mussten sich um Essen für die Kinder kümmern, Vertriebene und Ausgebombte um eine neue Wohnung. Sie mussten ein neues Leben anfangen, irgendwo, wo man vielleicht geduldet, aber nicht respektiert wurde.

Mit der Gründung der DDR wollte man all dieses Elend hinter sich lassen. Nach vorne in die Zukunft schauen. Da war kein Platz für öffentliche Trauer um Kriegstote. Das war privat. Doch Trauer und Schmerz werden durch Privatisierung und Verdrängen nicht kleiner.

Und heute nun stehen wir hier. Und es ist gut, dass wir hier stehen.

Dass wir uns öffentlich zur Trauer durch den Tod geliebter Menschen im Krieg, durch den Krieg, durch Terror bekennen und das Feld nicht ewig Gestrigen zur Heldenverehrung überlassen. Das wir hier nicht über Sinn und Unsinn von Kriegen streiten. Sondern einfach nur das Elend sehen, das durch Krieg und Terror – immer und überall auf der Welt - entsteht. Dass wir uns bewusst machen, dass all das immer wieder passiert. Nicht nur im Sudan, in Mali, in der Ukraine, nein an 130 Orten auf der Welt! Dass wir akzeptieren, dass auch russische Mütter Angst und Tränen haben dürfen. Das auch afrikanische Mütter um ihre Kinder weinen. Und alle Kinder der Welt, egal welcher Hautfarbe, Religion oder Geschlecht Eltern und Zukunft brauchen.

Heute, 106 Jahre nach dem ersten Volkstrauertag stehen wir zwar vor den Gedenksteinen für das Leid, das der 1. Und 2. WK für die Menschen hier vor Ort geschaffen hat und so manch einer denkt an seine Familiengeschichte, an die toten Väter, die verlorene alte Heimat. Doch unsere große gemeinsame Sorge, ja Angst, gehört der Zukunft.

Noch nie war unser persönliches Glück, unser Frieden so bedroht wie heute. Die Welt hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Wir erleben Veränderungen und Herausforderungen in historischem Ausmaß. Geopolitisch, ökologisch, digital und im Inneren unserer Gesellschaft. Wir sind Zeuge einer neuen Völkerwanderung und des Erstarkens extremistischer Kräfte jeglicher Motivlage. Dies alles und vieles andere fordert uns als Gesellschaft in bislang nicht gekannter Art und Weise. Doch noch nie aber waren wir so verzagt und hoffnungslos. Noch nie waren unsere Worte so kraftlos.

Wir wünschen uns, dass nie wieder eine Mutter ihren Sohn beweint.

Aber wir wissen: es passiert trotzdem tagtäglich.

Was müssen wir tun, um wenigstens das Leid der Welt durch Krieg zu verhindern? Was steht uns im Weg? Hass, Neid, falscher Patriotismus.

Wer kennt den Weg? Gibt es einen? Wir werden den Weg gemeinsam finden! Streiten wir, aber in Würde und Respekt für eine friedliche Gesellschaft. Das sind wir den Toten, vor deren Mahnmalen wir hier stehen, und unseren Kindern schuldig.

K. Grumbach