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Süderholzer Blatt
Ausgabe 363/2021
Das Thema
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Erinnerungen an Mutter

Mutter ist 88 Jahre alt geworden.

Sie war schon lange lebenssatt und wünschte sich hinfort. Denn hinter der Schranke zum Jenseits schien es mehr Menschen zu geben, die ihr nun wichtig wurden, mehr als davor. Vater zum Beispiel, der vor sechs Jahren verstorben war. Die Sehnsucht in den letzten Monaten nach den Vorangegangenen schien groß. Manchmal sagte Mutter: „Ich möchte einschlafen und nicht wieder aufwachen.“ Bei diesen Worten erschraken wir ...

Ihr langer Lebensweg begann in einem Dorf Hinterpommerns. Sie war das siebte Kind in einer großen Kinderschar. Mit dem Krieg verlor sie Haus, Hof und Heimat. Die Familie zog mit dem Treck gen Westen. Ihre Eltern fanden bei Greifswald eine neue Bleibe, bauten sich ein neues Haus.

Mutter arbeitete in einem Kindergarten der Stadt. Sie lernte unseren späteren Vater kennen, der Landwirtschaft lernte auf den Gütern der Universität. Die Verklärung jener Jahre oblag ihm. Mutter neigte nicht zum Fabulieren. Sie blieb eine nüchterne pommersche Landfrau.

Nach Heirat und Umzug besorgte sie Haus, Hof und Garten im neuen ehelichen Heim.

In ihrer erlernten Tätigkeit arbeitete sie nicht weiter. Sie hatte ja uns und ein riesiges Grundstück zu versorgen. Ihr Tag war lang, ihr Arbeitspensum umfasste mehr als acht und dreiviertel Stunden, die Bekannte, angestellt bei der Post oder im Büro, täglich außer Haus waren. Sie war Hausfrau, hielt Wohnung und Haushalt in Ordnung und Vater den Rücken frei. Ihre „Karriere“ beschränkte sich auf einen Wirkungsbereich, welchen Vater durch Ausbau des Hauses mit den Jahren noch erheblich erweitern sollte. Und Mutter wischte und wienerte. Und sie pflanzte, säte und erntete im großen Garten. Sie hielt Enten und Gänse. Und verkaufte Blumen und Obst. Kurz: Sie hatte ihre eigene „LPG“. Sie hegte und pflegte ein Paradies.

Manchmal beneideten wir unsere Mutter. Sie schien so „unabhängig“. Es gab keinen Chef, der ansagte, was zu machen ist. Sie war ihr eigener Chef. Es gab keine Anweisungen „von oben“, keine „Direktiven“, Appelle, Planvorgaben, wie für „Arbeitnehmer“ oder „Werktätige“ üblich. Mutter konnte schalten und walten in ihrem Reich, wie sie wollte. Keine Stechuhr, kein Schicht- und Stundenplan gaben den Takt vor. Sie brauchte keine Sitzungen, keine Konferenzen erdulden.

Dafür blieben ihr übliche Anerkennungen versagt: Sie erhielt keinen Verdienstorden und keine Medaillen. Sie wurde zu keiner Frauentagsfeier eingeladen, denn sie war auch kein Mitglied irgendeiner Organisation, die das veranlasst hätte. Mutter war und blieb eine einfache Frau, deren Augenmerk auf das Wohl ihrer Familie gerichtet war. Da wir Kinder uns in schulischer Hinsicht als relativ pflegeleicht erwiesen, gab es wenig Konflikte. Das machte, dass Mutter sich zumeist sehr ausgeglichen zeigte. Die elterliche Ehe war harmonisch.

Zu Geburtstagen und anderen festlichen Anlässen traf sich die ganze Familie, und Mutter sorgte für schmack- und nahrhafte Speisen auf dem runden Tisch in der Küche.

Sie sorgte auch dafür, dass Vater, als er schwer erkrankt war, täglich Besuch erhielt.

Das Autofahren hatte sie in langen Ehejahren wieder verlernt. Also mussten wir, ihre erwachsenen Kinder ran ... Diese wenig erfreulichen Pflichten neben der Arbeit, die so wenig Erfolg zeigten, weil Vater seinem Leiden schließlich doch erlegen war, sie stellten uns manchmal vor die Frage, wie es uns in solchem Fall wohl ergehen möchte. Wer sollte/wollte/würde uns „später“ täglich besuchen: zu Hause, im Krankenhaus, im Pflegeheim?

Unsere Kinder … weit weg, die Familien - zerrissen durch „Job und Karriere“ ... Wer?

Wir haben versucht, Mutter in ihren letzten Jahren zu stützen, so gut es ging und soweit es uns möglich schien. Mit Einkäufen, Besorgungen, oder einfach mit Besuchen gegen ihre Einsamkeit. Mutter wollte Zuhause bleiben bis zuletzt. „Ich gehe in kein Krankenhaus mehr!“, konstatierte sie.

Dank des örtlichen Pflegedienstes schien das möglich. Aber dieser, ihr letzter Wunsch war nicht zu erfüllen. Sie starb in einem Klinikbett- 88 Jahre und fünf Monate alt. In ihrer letzten Stunde wurden wir nicht gerufen. Doch hoffe ich, dass jemand da war, der ihre Hand gehalten hat.

Der Verfasser ist der Redaktion bekannt.