Ich erinnere mich, dass ich während des Studiums in Rostock mal den Vortrag eines Demografen gehört habe, in dem er prognostizierte, dass 50% der Frauen, die nach 1980 geboren sind, ihren 100. Geburtstag feiern werden. Ob das wirklich so kommt, wage ich noch zu bezweifeln, aber Fakt ist: heutzutage ist ein 100. Geburtstag doch noch etwas ganz Besonderes.
Und ein solch besonderer Geburtstag wurde am 19. September dieses Jahres in Lüssow begangen - von Erna Westphal. Seitdem ich hier in Süderholz wohne, also seit 2017, ist es zwar schon der dritte Hundertste in Süderholz, von dem ich gehört habe, aber vorher in meinem Leben bin ich noch nie einem Menschen begegnet, der die 100 voll gemacht hätte.
Man stelle sich das Leben vor, als Frau Westphal 1922 geboren wurde. Da war die Welt noch eine andere. Unser Land hieß „Deutsches Reich“ und Kandien, der Ort, in dem die kleine Erna Krolzig das Licht der Welt erblickte, gehörte zu Ostpreußen. Als eines von 7 Geschwistern wuchs Erna auf dem elterlichen Bauernhof auf und lernte nach der Schule den Beruf der Buchhalterin. Schon 22 Jahre war sie alt, als sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Flucht aus den nun polnischen Gebieten antreten musste. Während viele, die heute schon zur älteren Generation gehören, die Flucht nur noch aus Erzählungen oder Kindheitserinnerungen kennen, kann sie sich noch genau an alles erinnern und aus 1. Hand erzählen, wie sie es auf den letzten Drücker noch auf das letzte Schiff über die Ostsee geschafft hatte.
In Stralsund gelandet, kam sie schließlich nach Lüssow, wo bereits ihre Schwester wohnte. Hier lernte sie ihren Mann Franz kennen, arbeitete zunächst im Gemeindebüro und später bei der LPG in der Verwaltung. Sie bekam 2 Kinder und bewirtschaftete Haus und Heim.
Auf die Frage, ob sie eine Erklärung dafür habe, warum sie so alt habe werden dürfen, antwortet sie: „Wissen Sie, ich will Ihnen was sagen: Ich hab mein ganzes Leben lang gearbeitet.“ Wahrscheinlich war es die viele Arbeit, die gesund und zäh gehalten hat. So gesund, dass sie auch heute mit 100 Jahren immer noch gern im Garten herumspazieren und dort auch bei mancher Arbeit noch selbst Hand anlegen kann.
Wenn man einen Menschen trifft, der so alt hat werden dürfen, dann denke ich zwangsläufig auch an die vielen, denen ich begegnet bin, die nicht mal 80, nicht 70 oder nicht mal 60 haben werden dürfen (und viele von denen haben auch viel gearbeitet) und ich seufze innerlich auch darüber, dass es im Leben so ungerecht zugeht. Aber ich erinnere mich oft an die Worte einer Freundin, die mit 51 Jahren an Krebs gestorben ist, und die sich selbst bei ihrer eigenen Trauerfeier noch mit zu Lebzeiten geschriebenen Sätzen an die Trauergemeinde gerichtet hatte: Weint nicht um mich, denn ich bin nun bei Gott, meinem Vater, und es geht mir gut. Ein tröstliches Wort, das mich heute durch viele schmerzliche Begegnungen begleitet. Also ob ich nun tatsächlich zu den prognostizierten 50% meines Jahrgangs gehöre, die die 100 erreichen, oder ob mir ein anderes Schicksal beschieden sein wird: das Leben muss man genießen, solange man es kann.
Brunke Ziemann