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Süderholzer Blatt
Ausgabe 385/2023
Dit und Dat
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... über unten ist oben ...

Eine Wintergeschichte

Berske schloss sein Fahrzeug ab und stapfte dem Eingang entgegen.

Eine leichte Schneedecke hatte über Nacht den frostharten Boden zugedeckt. Er hielt sich an der Seite, wo der Schnee noch nicht festgetreten war. Doch war die kleine mit Eis angefüllte Senke nicht zu sehen,

die zum Verhängnis führte. Der Parkplatz vor dem Einkaufsmarkt füllte sich stetig, die Lichtkegel derScheinwerfer ließen den Schnee glitzern und streiften hin und wieder die Unfallstelle.

Berske bewegte vorsichtig die Gliedmaßen, spürte keine Schmerzen, auch nicht an der linken Hüfte, auf der er lag. Glück im Unglück, dieses Gefühl gab ihm Mut. Doch die Schrecksekunde dehnte sich aus. Er sah die Welt aus der Igelperspektive.

Kaufwillige Passanten strömten an ihm vorbei. Mit festem Schritt bewegten sich Beine in Schnürstiefeln vorwärts, leicht beschuhte Füße tippelten vorüber. Eine Passantin blieb kurze Zeit reglos stehen, fast berührten ihre braunen pelzbesetzten Stiefeletten sein Gesicht.

In der Nähe waren aufprallartige Blechgeräusche zu hören, Lärm entstand, Fahrzeuge stauten sich. Fußgänger wichen zur Seite und suchten vorsichtig nach sicheren Übergängen.

Berske versuchte langsam aufzustehen. Aus der Menschenmenge löste sich eine junge Frau, die ihm hilfreich die Hand entgegenstreckte. Von einem Autoradio klang die Melodie eines Winterliedes herüber, „Schneeflöckchen, Weißröckchen.“

Er verbarg sich hinter einem hohen Laster, klopfte den Schnee von der Kleidung. Befürchtungen führten zu innerem Widerstreit. Wie viele hatten ihn gesehen, könnte man ihn wiedererkennen? Als Unglückswurm dastehen, das macht schnell die Runde und wird nicht selten verzerrt dargestellt. Besser umkehren? Er begann zu zaudern. Der Mut setzte sich durch. So schnell kleinzukriegen war er doch sonst nicht. Er schlug den Kragen hoch und zog die Mütze tiefer ins Gesicht. Seine Augen erfassten die Werbung „ Alles muss raus“ „ Rabatte bis zu 50%“.

Seine Hände tasteten nach dem Einkaufszettel.

Berske schob den Einkaufswagen mit leicht gesenktem Kopf durch die Gänge. Die braunen pelzbesetzten Stiefeletten blieben in seiner Erinnerung wach, bedeuteten sie vielleicht ein schlechtes Omen?

Aufmerksam beobachtete er sein Umfeld und versuchte mit versteckten Blicken Gefahren abzulesen. Nicht wie gewöhnlich wählte er abwägend die Produkte aus, sondern nahm das Gewünschte im Gehen aus den Regalen.

Nicht alles, was der Merkzettel vorgab, wurde in der Eile gefunden.

Den Kühlbereich hatte er gemieden, hier gab es Gedränge. Er wählte die hinterste Kasse, wo man nicht im Blickpunkt stand, selbst aber freie Sicht hatte.

Danach schob er den Wagen auf einen mäßig frequentierten Nebengang, der auch zum Ausgang führte, und blieb hinter hohen Gewächsen am Blumenstand stehen. Er fühlte sich erleichtert. Ende gut, alles gut, ging ihm durch den Kopf. Eine Bank stand neben ihm, sollte er sich nicht wenigstens eine Minute hinsetzen? Seine Psyche wehrte sich, denn das Hinweiszeichen zum Ausgang wirkte wie ein Magnet.

Plötzlich stand ein Ehepaar vor ihm, aus seinem Wohnort. Wie es ihm ginge.

Er wurde misstrauisch, denn es war nicht erkennbar, wohin die Frage zielte.

So gut man kann schlage man sich eben durch, durch alle Krisen.

Auf interessante Neuigkeiten reagierte er freundlich nickend, wirklich fühlte er sich aber aufgehalten. Alsbald trennte man sich. Er ging weiter.

Aus einem Seitenladen erschienen Leute, die ihm bekannt vorkamen.

Er blieb stehen, senkte den Kopf. Einkaufswagen rollten an der Seite vorbei.

Und dann der Schreck: Braune Stiefeletten, mit Pelz besetzt, hinter drehenden Rädern. Das war sie. Nur noch wenige Schritte, dann müsste sie vorbei sein.

Bange Augenblicke folgten. Doch unerwartet neigte sie das Gesicht zur Seite und verkündete unüberhörbar: „ Ich habe Sie draußen liegen gesehen!“

Und hinter ihm eine erstaunte Stimme: „Ach, Sie waren das.“ Jemand lachte.

Berske zuckte zusammen.

Er spürte einen stechenden Schmerz in der linken Hüfte.

Eckhard Just