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Süderholzer Blatt
Ausgabe 395/2023
Kultur
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Gelesen: Anne Rabe. Die Möglichkeit von Glück

Du suchst nach Worten für etwas, für das du zum Schweigen verdonnert wurdest. Gewalt. Dieses Wort kann alles heißen und bedeutet vielen gar nichts. Der Begriff hat sich verändert. Ist weiter geworden. Wird inflationär gebraucht, um Grenzen möglichst früh abzustecken und jede Verletzung, jedes Unbehagen zu vermeiden...“ schreibt Anne Rabe in ihrem Romanerstling „Die Möglichkeit von Glück“. Das für den deutschen Buchpreis nominierte Werk fand schon viel mediale Aufmerksamkeit, sodass die Empfehlung durchaus gemischte Reaktionen hervorrufen konnte:,, … es muss mir niemand den Osten erklären, schon gar nicht ein Ossi, der es ganz genau wissen will, weil er zur Wende gerade mal 3 Jahre alt war. Solche Leute sind zudem oft noch sehr anmaßend...“, war in einem Post zu lesen.

Die Autorin ist 1986 geboren und damit in der Tat keine Zeugin der untergegangenen DDR. Ihre Erinnerungen an die Wende sind unscharf. Scharf jedoch stellt sie die Frage: „Was ist Gewalt...und warum wirkt sie so lange nach? Warum vergisst du sie nicht einfach?“

Welche Antwort würde man geben, stellte das eigene Kind diese Fragen? Ich erinnere mich an ein Gespräch, das in Schweigen endete. Meine Tochter wollte wissen, worauf ich keine oder nur sehr unzulänglich Auskunft geben konnte. Ich fand mich nur peinlich berührt. - Darum besorgte ich mir das eben erschienene Buch... Würde ich darin Antworten finden?

Anne Rabe entstammt demselben Jahrzehnt: dem Jahrzehnt des Untergangs eines sozialistischen Experiments. Und ihr Buch ist mehr als nur eine Rückschau auf die letzten Jahre des 1. Arbeiter-und Bauernstaates. Die Romanhandlung entwickelt sich mit der Suche nach der eigenen Vergangenheit und der ihrer Familie. Die Erinnerungen an die letzten Jahre in der DDR, an die Jahre nach der Wende... sie vermischen sich mit den Eindrücken von Schweigen, Unverständnis, Unausgesprochenem, Verdrängten aus der Vergangenheit und der erwachenden Suche nach Gründen dafür. Seelische Beschädigungen werden sichtbar. Ideologische Prägungen im Leben von Großeltern und Eltern, die weiterwirken auf die Kinder.. „Was für eine Welt, was für eine irre Welt, denkst du und versuchst zu ordnen, was nicht in Ordnung war...“

Der Roman, aus 14 Kapiteln bestehend, unterteilt sich in nummerierte Abschnitte und ist in einem Quasi-Dialog von Stine und ihrem Alter Ego geschrieben.

Vorangestellt sind den Kapiteln Zeitzeugen-Aussagen von Brecht, Eich, Bachmann, Herrndorf u.a. Die Protagonistin berichtet aus ihrer Sicht über den erfahrenen und erinnerten Alltag in Familie, Freizeit und Schule. Das wird auch dem Lesenden, dessen Kinder in diesen Jahren groß wurden, zu einer Reise in die jüngste Vergangenheit. Und je näher er sich an die Gegenwart heran liest, desto gebannter ist er, desto beklemmender wird es...Da sind „die Trauer und die Scham über das, was man uns nicht erzählt hat.“,

Wie viel Verantwortung trägt man selbst am Verschweigen? - Stine fragt:

Wie viel Wahrheit verträgt ein Land? Eine Stadt oder eine Familie?“

Da gibt es Passagen von solcher Art: „Die Zahl der Kindstötungen ist im Osten Deutschlands in den 90er und 00er Jahren doppelt so hoch wie im Westen... Während dieser;Baseballschlägerjahre` wüten Kinder und Jugendliche in Springerstiefeln durch das ...Land und schlagen alles kurz und klein...Vorzugsweise,Ausländer, Zecken und Obdachlose`...Und eine Lehrerin schreibt in einer Studie zur Belustigung der ganzen Republik:,Kevin ist kein Name, Kevin ist eine Diagnose´. Schon vergessen? Die Stine jener Jahre weiß, wo es Drogen gibt, und sie weiß, „dass die in Tische und Wände gekratzten Fensterkreuze einmal Hakenkreuze waren“.

Sie erlebt die widersprüchlichen Haltungen innerhalb der Familie:

Im Fernsehen sah ich ...Menschen zu Technobeats durch Berlin ziehen. Sie lachten und stampften im immer gleichen Takt... Wo war das? Auf einem anderen Planeten? Love Parade. Love ist Englisch und heißt Liebe. ...Mein Cousin...hatte das Programm im Schlafzimmer von Oma und Opa angemacht... während die Erwachsenen sich im Wohnzimmer die Kante gaben. Sein jüngerer Bruder durchwühlte Opas Nachttischchen nach Pornoheften. Er musste nicht lange suchen... Dicke Dinger, Geile Ärsche und Willige Weiber brachten uns alle zum Lachen.“ Aber es gibt noch eine andere Seite des Erinnerns: „Die Verhöre früh am Küchentisch. Der Sträfling ein 12jähriges Kind, dessen einziger Ausweg es ist, sich zu ergeben. Selbst auszusprechen, was sein Verbrechen war. Die Schwächen und wunden Punkte zuzugeben. Die Strafe folgerichtig klaglos hinzunehmen... Dieses Kind war ich.“Stine aus einer „Kleinstadt an der Ostsee“.

Die Autorin ist in Wismar geboren. Und sie gehörte einer Gemeinschaft an, die es nach 1989 nicht mehr gab. „Ich kam aus der Reihe der Eliten, der Systemfamilien, der sogenannten SED-Nomenklatur, der Funktionäre und Parteisoldaten... Meine Familie war mitgemeint, als die Demonstranten ihre Wut gegen das System auf die Straße trugen“. Anne Rabe schont sich nicht. Ihr Roman ist die ehrliche und kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte.

Da sind unbequeme Fragen, die andererseits berühren: Warum war Mutter so zynisch, so ungerührt und kalt? Warum schwieg zu allem immer der Vater? Was war der geliebte Opa Paul vorm und im Krieg gewesen? Warum hat er die hohe Auszeichnung nicht bekommen, konnte er in der DDR keine Karriere machen? Und was endlich bedeutet die „Möglichkeit von Glück“? Die Antwort in der Broschüre mit den „Leseproben“ (aus Werken der für den Buchpreis Nominierten) lautet: „Sich von den fortgesetzten Gewalterfahrungen zu emanzipieren“. - Das leistet dieses Buch.

Anne Rabe reflektiert nicht nur Erinnerungen und eigene Gedanken, sie forscht nach, sucht die Wahrheit in Archiven und Institutionen wie dem Bundesarchiv für Stasi-Unterlagen. Deshalb folgt dem Romanabschluss eine lange Liste mit Danksagungen an Freunde, Bekannte, Archiv-Mitarbeitende u.v.a. Sogar ein Quellenverzeichnis gibt es, Beleg für die Authentizität der Handlung. Die kritische Rückschau auf jene Nachwendejahre, in denen unsere Kinder erwachsen wurden … das ist nicht anmaßend! Das nötigt uns Älteren Respekt ab und macht zugleich nachdenklich. Da genügt nicht mehr die selbst so oft gehörte, nichtssagende Allerweltserklärung: „So war das!“ - Aber in die eigene Sprach- und Ratlosigkeit jener Tage mischt sich angesichts der aufgeworfenen Fragen nun das Bewusstwerden eigener Schwächen und Grenzen. Auch das von eigenem Versagen? - Ja, dieses Buch sollte lesen, wem platte Antworten nicht genügen! Denn Gewalt und deren Folgen, Schuld und Scham wirken bis in die Gegenwart hinein. Der Leser ist genötigt, sich selbst Gedanken zu machen: Und wie viel Wahrheit verträgst du …? -

Im Klappentext von Magda Birkmann heißt es: „Bestechend klar und kühn erzählt Anne Rabe von einer Generation, deren Herkunft eine Leerstelle ist.“ Ist dem so? Unsere Kinder - Produkte einer „Leerstelle“ in der Geschichte? Da stimme ich eher mit Hendrik Bolz überein, der meint: „Ein Buch, das eindrücklich vermittelt, was für tiefe Linien des Schmerzes sich durch ostdeutsche Biografien ziehen. Danke für diese mutige Arbeit!“

Linde Hurtig