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Süderholzer Blatt
Ausgabe 398/2024
Kultur
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Buchbesprechung Juli Zeh

Unterm Weihnachtsbaum gefunden...und gelesen:

Der Roman Zwischen Welten von Juli Zeh,

in Co-Autorenschaft mit Simon Urban

Da draußen ist ein Monster

„Gruppenreise nach Canossa - über den pathologischen Entschuldigungskult der digitalen Gesellschaft“ überschreibt Florian Sota, der Chefredakteur des BOTEN, einer renommierten deutschen Wochenzeitschrift, seinen Leitartikel nach der Enthauptung eines Gipsdenkmals vor dem Hamburger Verlagshaus. Die Aktion war gegen ihn gerichtet. Sota hatte einen politisch unkorrekten Witz auf Kosten einer schwarzen Mitarbeiterin unentschuldigt gelassen. Und nun erfährt er:

Da draußen ist ein Monster: Hassmails, Todesdrohungen aus dem Netz, digitale Verachtung, die bis ins reale Leben seiner Familie reicht ...

Theresa antwortet ihrem ehemaligen Kommilitonen Stefan auf dessen Bericht über diesen Vorfall: „Das System ist ein Witz, über den niemand mehr lacht. Es ist höchste Zeit, aus der Reihe zu tanzen. Die Angst verschwindet, sobald man das Heer der Konformisten verlässt.“ Denn: „Unsere Gesellschaft wird einerseits immer säkularer, pflegt aber andererseits einen immer drastischeren Moralkult. Man glaubt heute nicht mehr an das unfehlbare Urteil Gottes, sondern an das der vermeintlich integren Digitalgesellschaft.“

Was wird erzählt? Wer einmal am digitalen Schandpfahl gestanden, am eigenen Leib öffentliche Herabwürdigung erfahren hat, so wie Thessa, wie Sota, der flieht vor einem Monster, das so viele Köpfe hat, wie man nicht abschlagen kann. In was für einer Welt leben wir? -

Über Stefan erfährt der Leser, dass er als Journalist und stellvertretender Chefredakteur in Hamburg beim „BOTEn“ arbeitet. Er ist der Großstadtmensch, das Pendant zu Theresa, die ihr Studium in Münster abgebrochen hat, um den väterlichen Hof im Brandenburgischen Dorf Schütte weiterzuführen, nachdem ihr Vater verstorben ist.

Zwei Welten treffen aufeinander: die des selbstverliebten Intellektuellen auf der Sinn- und Ich-Suche und jene der pragmatischen Landwirtin, die mit Viehhaltung und ökologischem Landbau ihren Betrieb für die Zukunft zu retten sucht...

Stadt und Landleben, Ost und West... Das sind keine Klischees, die zur Debatte stehen! Im regen Wechsel der Nachrichten kommen Zeitgeist und Weltpolitik zur Sprache: Stefan gendert nicht nur seines Berufes wegen, sondern aus Überzeugung. Während er durch den Alltag der Redaktionsstuben und durch das kulturelle Leben der Großstadt hetzt, kämpft Thessa permanent gegen Unverständnis, Agrar-Bürokratie und die Folgen des Klimawandels: Dürre, Starkregen, Schweinepest bedrohen die Existenz ihres landwirtschaftlichen Betriebes und die ihrer Mitarbeiter sowie ihrer Familie. Darum empfindet sie Stefans hochtrabende Klagen auch eher als „Sturm im Wasserglas“.

Deshalb schreibt sie ihm mit sarkastischem Unterton: „Ich denke, du fühlst dich irgendwie leer und musst deshalb ständig Besonderheit in dich reinstopfen. Erst HEFTIG, dann Wokeness, jetzt Lighthouse. Hauptsache, es ist etwas los... du bist ganz vorn dabei und immer derjenige, der ... alles richtig macht.“

Stefan lebt beziehungslos, nachdem eine Partnerschaft gescheitert ist und Theresa als Mitbewohnerin einer WG nicht mehr bei ihm am Küchentisch sitzt.-

Aber auch er ist auf der Suche. In der Zeit neuer Medien gerät der alte Journalismus in die Krise. Stefan will als Journalist neutral sein. Will unparteiisch berichten. Zwischen den Stühlen sitzen. Nur Theresa erinnert ihn: „Ob das nicht eine reine Abstraktion ist... Wann war die Presse schon jemals neutral? Es gab doch immer die rechtspopulistischen Scharfmacher aus dem Boulevard und die hochnäsigen Linksintellektuellen von den großen Wochenzeitungen. Jetzt verschieben sich die Fronten...“.

Der Roman bildet ab, was Thema dieser Tage ist. Er berichtet von Polarisierungen, den Krisen unserer „Zwischenzeit“: von den emotional aufgeladenen Meinungskämpfen, von der Behäbigkeit und Rechthaberei mancher Institution, von Arroganz und Ignoranz, vom Haltungskrieg und Ringen um die „richtige“ Meinung - sei es im Blick auf den Ukrainekrieg, auf AfD, Alltagsrassismus oder Migration...

Im Kurznachrichtenstil - erzählt wird durch Whats App- und Telegram-Nachrichten sowie Emails - ist von Katastrophen und Verlusten die Rede.

Das Werk von Zeh und Urban hat manchem Kritiker scharfe Worte entlockt: „Dieses Buch geht einem derart auf die Nerven, dass man beim Lesen immer miesere Laune bekommt“, ätzt es im Münchner Merkur. „Zwischen Welten“ sei nicht mehr als „ in Fiktion gegossener Zeitgeist“. Nicht einmal schlechte, eher gar keine Literatur. „Denn obwohl viele der Argumente, die Stefan und Theresa durchkauen, richtig sind, fängt man als Leser nicht an, sich selbst zu reflektieren. Statt berührt zu sein von den Ungerechtigkeiten dieser Welt, sieht man sich mit erhobenem Zeigefinger angepöbelt. Und fühlt am Ende: nichts. Weil der Text blutleer ist.“

Über Kunst lässt sich bekanntlich streiten.

Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ aus dem 18. Jahrhundert, wegen der medialen Erzähltechnik oft zum Vergleich herangezogen, hat zu seiner Zeit ein wahres Werther-Fieber ausgelöst: junge Männer kleideten sich in der Werther-typischen Mode; manch einer folgte dem Helden in den selbst gewählten Tod.- Davon ist dieser Email-Roman weit entfernt.-

Einen tragischen Endpunkt gibt es aber auch im aktuellen Buch.

Denn zunehmend harsch geht es zur Sache...

Mit Befremden beobachtet Stefan, wie bei einem öffentlichen Vortrag über Geschlechteridentität an der Uni die Vertreterin der traditionellen Theorie (von den zwei biologischen Geschlechtern) am Reden gehindert wird - durch ein „ohrenbetäubendes Trillerpfeifenkonzert“ von Aktivist*innen.

„Krass fand ich, dass in der ersten Reihe einige der mächtigsten Personen der Hamburger Wissenschaftsszene hockten ...“ berichtet er Tessa. „Die saßen alle seelenruhig da ... Niemand stand auf und unternahm etwas...Die Akivist*innen hatten fraglos ihr Ziel erreicht: maximale Aufmerksamkeit. Aber sie hörten trotzdem nicht auf... Offensichtlich gab es ... keine Instanz, die bereit war, sich mit den Störer*innen anzulegen. Niemand wollte riskieren, in den sozialen Medien als Faschist*in beschimpft zu werden... Das Ergebnis ist fatal: Keine/r nutzt seine/ihre Macht, um die Universität als das zu verteidigen, was sie ist, nämlich ein Ort der freien Rede.“ Im Gegenteil!

Wenig später beklagt er die Einsetzung zweier Jungredakteur*innen durch die oberste Leitungsebene: 19jährig... „hätten sie ja schon früher herausragende Arbeit geleistet. Studium? Volontariat? Journalist*innenschule? Gutes Benehmen? Alles nicht mehr nötig. Die richtige Haltung und ein paar Zehntausend Follower*innen reichen...“

Fragen, die im Kopf des Lesenden entstehen: Wie weit reichen Recht und Gerechtigkeit in einer Demokratie? Haben Protestierende, die sich mit Trillerpfeifen Gehör erzwingen oder aufs Straßenpflaster kleben, alles Recht der Jugend? Sind wir gerade dabei, gesellschaftliche Tugenden und Tabus den sich verrohenden Sitten zu opfern? Werden wir zur gnadenlosen Gesellschaft, geraten wir in eine Anarchie? Und: Wie soll ein demokratischer Staat sich angesichts solcher Auswüchse verhalten? Sich wegducken? Sie tolerieren? Sind wir letztlich nicht alle gefragt, uns zu den Problemen zu verhalten... ohne dabei fürchten zu müssen, in irgendeine radikale Ecke gestellt und intermedial an den Schandpfahl gestellt zu werden?

Und: Wie sich dagegen wehren? -

Denn das Netz vergisst nie... Allein der Gedanke ist monströs!

Man mag zu kritisieren haben: Fehlt es der Erzählung an Stringenz? Bleibt der Leser wirklich unberührt? Er entwickelt Sympathien mit den Protagonisten, auch Unverständnis und Antipathie, je nach Blickwinkel.

Doch wem das Buch schlechte Laune macht, der hat den Schuss nicht gehört! Denn das Buch ist (mit Worten anderer Kritiker, u.a. vom ZDF) „brisant und hoch spannend, von erschreckender Aktualität und bedrückender Relevanz. Eine konstruktive Provokation. Ein großer Gesellschaftsroman, der perfekt in unsere Zeit passt!“. Zu lesen war aber auch: „Wer die Herausforderung annimmt, in die eigenen Luftblasen zu stechen, kann bei dieser Lektüre viel Spaß haben.“ (LVZ)

Na dann ... auf ein berührendes, aufwühlendes Leseerlebnis!

Linde Hurtig