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Süderholzer Blatt
Ausgabe 414/2025
Heimat
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Lese-Empfehlung

Achtzig Jahre nach Ende des Krieges kommen die Erlebnisse eines Zeitzeugen in Buchform auf den Markt. Einer der vielen Beiträge zu dem historischen Datum, möchte man meinen. Aus Sicht eines Kindes, des zehnjährigen Karl Schlösser, werden die Tage vor, im und nach dem Krieg in Demmin erzählt. Untertitel:

Wie der Krieg 1945 nach Demmin kam.

Bis dahin hatte der Junge in paradiesischen Verhältnissen gelebt: in dem alten, unzerstörten, heute kaum mehr vorstellbaren beschaulichen vorpommerschen Städtchen.

Der achtzigjährige Karl Schlösser fand seine alten Schriften aus jener Zeit wieder. Als junger Mann hatte er notiert, was er 1945 hautnah erlebte.

Ich stand, umgeben von Leichen. Um mich herum brannten Häuser. Stürzten in sich zusammen. Frauen schrien. Kinder... In welche Zeit war ich hineingefallen? Ohne Vorbereitung. Ich dachte bisher, es gäbe nur das Traumland, aus dem ich kam: mein schwereloses Leben im großelterlichen Paradies... Ich ziehe die Aufzeichnungen wieder vor. Habe es eilig. Es trifft mich, was ich hier nach sechzig Jahren lese...

Und es trifft den Lesenden heutiger Tage, der die kindlichen Gedanken gut nachvollziehen kann. Weil er mit dem sensiblen Jungen durch die Wiesen streift, seiner Fantasie folgt, seinen Träumen, mit ihm in der Burgstraße unterwegs ist und in der Umgebung der Dreiflüssestadt, zwischen Fachwerkhäusern und Luisentor, der zu Paster Mü in die rote Backsteinschule geht und die Versammlungen der Pimpfe schwänzt, der die Veränderungen des nahenden Krieges in seiner Umgebung mit ahnungslosem Staunen sieht, bis das Inferno über ihn hereinbricht.

Mit zehn Jahren war der Junge plötzlich „der älteste Mann in der Familie“ geworden: der Vater an der Front gefallen, der Großvater halbtot geprügelt und infolge der Ereignisse in den letzten Kriegstagen gestorben... Beim Lesen spürt man Trauer in sich aufsteigen. Und heiligen Zorn ...

Die heiteren Kindheitstage sind abrupt vorbei und eine andere Zeit begann.-

Auch darüber berichtet Schlösser - wie vorher - in sachlichem, doch nun versöhnlicherem Ton. Im Epilog schreibt der Autor, der nach dem Krieg u.a. als Mitarbeiter des Archivs 20 Jahre im Kreisheimatmuseum der Hansestadt beschäftigt war:

Ich ertappe mich heute noch des Öfteren dabei, die zerstörten Straßenzüge meiner Kindheit wieder aufzubauen. Ich kann mich mit dem Untergang meiner Stadt nicht abfinden. Immer noch nicht. Gewiss, ich muss es hinnehmen, dass der Ort nicht wieder auferstanden ist, wie ich es mir gewünscht hätte. Er hat seinen Charakter verloren und ihn nie wieder erlangt.

Karl Schlösser, 1934 in Demmin geboren, verstarb 2018 dort. Das Bedürfnis, Kindheitserlebnisse wieder auferstehen zu lassen, mag alten Menschen nicht fremd sein. In diesem Falle geben sie nachwachsenden Generationen ein Bild, das sich dem Autor unauslöschlich eingebrannt hat.

Schlösser, der eine handwerkliche Ausbildung erhielt, war immer auch künstlerisch tätig. Und was er nicht vergessen konnte, brachte er auf die Leinwand. Im 120 - seitigen Büchlein befinden sich einige Beispiele seiner Kunst: Porträts von Angehörigen. Vor allem aber: Trümmer-Bilder - von der brennenden Stadt, von rauchenden Ruinen, dem „untergegangenen Demmin“.

Dem Erzähl-Duktus können auch junge Leser gut folgen. Und gelesen werden sollten diese Aufzeichnungen, in der Schule, in den Familien! Es finden sich Sätze darin, die nachdenklich machen: „Sie waren im großelterlichen Haus, wie sie beteuerten, keine Nazis, aber Widerstand zu leisten war nicht ihre Sache. So machten sie mit bis zuletzt.“, schreibt der Autor aus bitterer Distanz in späteren Jahren. - Und wir heute?

Der Blick geht hinaus... Auf dem Spielplatz ist Kinderlachen zu hören. Schaukelnde, wippende Kinder, fröhlich, unbeschwert. Und deren Eltern, die sich auf einer Bank sitzend unterhalten. Ein Bild des Friedens... Es mahnt uns:

Die „Vertreibung aus dem Paradies“– keine biblische Geschichte, keine Sage - geschah plötzlich und real, nicht irgendwo, sondern nur wenige Kilometer von hier entfernt. Vor gerade mal achtzig Jahren.

Karl Schlösser, Vertreibung aus dem Paradies, erschienen 2025 im Lucas-Verlag.

LINDE HURTIG