Seit über drei Jahren werden wir tagaus, tagein in allen Medien von Politikern, Wissenschaftlern, Leitern von irgendwelchen Behörden oder Institutionen, Generälen (aktiv oder bereits außer Dienst), Dissidenten, Journalisten und anderen wie auch immer gearteten Geschichts- und Militärexperten und nicht zuletzt von den Regierungschefs der europäischen Länder und den Verantwortlichen der EU selbst über den Ukraine-Konflikt und vor allen Dingen den erforderlichen Umgang damit informiert. Sehr unterschiedliche Äußerungen, mal mehr, mal weniger fundiert, oft gut gemeint, oft genug aber auch von ganz bestimmten Interessen getrieben.
An einem Tag erzählt man uns, dass Russland kurz vor dem Zusammenbruch stünde und seine ganze militärische Ausrüstung sowieso zu 80 % nur noch aus Schrott bestünde. Nur um uns am nächsten Tag zu erzählen, dass wir Russland heute unbedingt Einhalt gebieten und uns bis an die Zähne bewaffnen müssen, weil Russland sonst morgen ganz Europa erobern wird.
Während russische Wortmeldungen, wenn überhaupt in unseren Medien erwähnt, als Narrative herabgewürdigt werden, die keiner näheren Betrachtung wert sind, werden uns oft genug eindimensionale Interpretationen, Vermutungen und Spekulationen als seriöse Informationen verkauft. Hinzu kommt das zugegebenermaßen beiderseitige übliche Säbelrasseln, das einem den Blick verstellt. Wem dieses ganze Durcheinander zu viel wird, dem sei hier ein Buch empfohlen, das sich wohltuend von den üblichen Beiträgen in unseren Medien abhebt.
Im Jahr 2024 erschienen, werden hier keine Narrative bedient, sondern unglaublich viele Fakten angeboten. Keine Polemik, keine wilden Spekulationen, nur Fakten, sehr viele spannende und vor allen Dingen belegte Fakten. Allein der Anhang mit den Internet-Adressen sämtlicher verwendeter Quellen umfasst 29 Seiten in kleinster Schrift. Frei von Emotionen und irgendwelchen Interessen wurde hier, getragen von dem Wunsch nach Klarheit und dem Wunsch Zusammenhänge verstehen zu wollen, sehr engagiert eine Unmenge an hoch interessantem Material zusammengetragen und ausgewertet. Verharmlosungen oder einseitige Schuldzuweisungen sucht man hier vergebens. Allein schon deshalb sind der Autor Günter Verheugen und die Autorin Petra Erler über den Verdacht, Putinversteher oder Russlandfreunde zu sein, erhaben.
Schonungslos werden Fehler, Lügen und Täuschungen aller Beteiligten aufgedeckt und Propaganda als solche entlarvt. Zerplatzte Träume und vergebliche Lösungsversuche werden ebenso dargestellt wie noch verbliebene Chancen und Möglichkeiten einer tragfähigen Lösung des Konfliktes. Gelernt habe ich aus diesem Buch, Säbelrasseln als solches zu erkennen, gelernt, dass beteiligte Parteien immer mit Maximalforderungen in Verhandlungen gehen, gelernt, dass das Anführen der gegnerischen Maximalforderungen als Hinderungsgrund für Gespräche das Gegenteil von Diplomatie ist, es ist Propaganda. Gelernt habe ich, westliche, aber auch östliche Propaganda als solche zu erkennen und einzelne Geschehnisse und Wortmeldungen in einen größeren Zusammenhang einzuordnen.
Das Buch kann als ein großes Plädoyer für echte Diplomatie verstanden werden. Und in diesem Sinne wünsche ihm noch sehr, sehr viele interessierte und engagierte Leser.
Günter Verheugen, Petra Erler
Der lange Weg zum Krieg
Wilhelm Heyne Verlag, München 2024