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Ausgabe 1/2025
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Mit Manfred Reichenbach geht ein Stück Wissener Heimatgeschichte  

Am 22. Dezember verstarb mit Manfred Reichenbach (87) ein Stück Wissener Ladengeschichte. Die „Schmandmarie“ als aktuellen Laden gibt es seit mehr als einem Jahr wieder in Wissen. Er hat eine lange Vorgeschichte. Da es auch ein Stück Wissener Zeitgeschichte ist, dazu ein kurzer historischer Abriss und der Text einer Absolventin der Schreibakademie von Hanns-Josef Ortheil.

Das aktuelle Buch, welches aus der Schreibakademie entstanden ist, enthält einen Text zum heutigen Laden „Schmandmarie“ und ist im Buchhandel erhältlich. Titel: Wissen, Sieg. Beobachtungen vor Ort. Hrsg. Hanns-Josef Ortheil. Es ist zum Preis von 12 € erhältlich im Verlag im Alten Zollhaus/buchladen Wissen, Maarstr. 12, Tel. 02742 1874. ISBN 978-3-9810646-7-4 erhältlich.

Historisches:

Ab 1958 hat Manfred Reichenbach das Milchgeschäft in der Gerichtsstraße 1 mit seiner Ehefrau Ilse bis zur Geschäftsaufgabe 2002 geführt.

Legendär war die "Milchbar" oberhalb des Ladens, die bis Ende der 70er Jahre mit der Musikbox, frischen Milch-Shakes und Eisbechern aus hauseigener Speiseeis-Herstellung ein beliebter Treffpunkt für viele Wissener und darüber hinaus.

Ehefrau Ilse führte den Laden in der Gerichtsstraße und Manfred fuhr mit seinem Verkaufswagen zu den Menschen. Seine Hauptgebiete waren der Alserberg und Altbel in Wissen und umliegende Ortschaften wie Selbach und Fensdorf. Seine längste Tour führte ihn immer mittwochs nach Stein-Wingert, Mörsbach und Alhausen.

Elfie Strauß, Absolventin der Schreibakademie von Hanns-Josef Ortheil in der Mittelstraße (Sala Ortheil), hat den Ur-Wissener Reichenbach im Frühjahr des letzten Jahres nochmals nachträglich auf seinem Weg begleitet und folgenden, rückblickenden Text mit dem Titel „Der Milchwagen“ verfasst, den sie Manfred Reichenbach und seiner Arbeit gewidmet hat:

„Der Milchwagen

Sie ging über die Dörfer, die Mittwochstour des Milchmannes. ‚Fünfunddreißig Jahre‘, erzählte er. ‚Jede Woche, nur nicht im Urlaub, also achtundvierzig Wochen im Jahr. Können sie sich das vorstellen? In fünfunddreißig Jahren sind das Eintausendsechshundertachzig Fahrten auf der Mittwochstour - immer die gleiche Strecke, fast immer die gleiche Kundschaft. Nein, das können sie sich nicht vorstellen. Ein gutes Leben war das.‘ Der Milchwagen brachte neben der Milch auch all die Lebensmittel, die in den umliegenden Dörfern oder auf den entlegenen kleinen Bauernhöfen zum täglichen Leben gebraucht wurden mit. Wie an jedem Morgen begann das Tagewerk des Milchmannes bereits morgens um fünf Uhr mit dem Abholen der Milch aus der nahen Molkerei. Nach dem Beladen des Tante-Emma-Ladens auf Rädern ging es dann schon früh los. Hinter dem Steuer seines großen Verkaufswagens lenkte der Milchmann seine wertvolle Fracht den Berg hinauf und hinaus aus der Stadt. Der Wagen war schwer gefüllt. Der Milchmann wußte, was für seine Kunden wichtig war und auf was sie Wert legten. Er war stolz, dass er das auch anbieten konnte, dass sie sich mit ihren Bestellungen und Wünschen auf ihn verlassen konnten. Er kannte seine Lieferanten, wußte, woher er gute Ware bekam, auf welchen Bäcker und Metzger er sich verlassen konnte. Der Motor seines Verkaufswagens war stark und das musste er sein, wenn er die Strecken über die steilen Hügel nehmen wollte. Den Milchmann erfüllte es mit Stolz und Freude, den Wagen über die kleinen Straßen zu lenken, hin zu den Menschen, die ihn in ihren Dörfern bereits erwarteten. Sobald er die letzten Häuser der Stadt hinter sich gelassen hatte, gesellte sich zu diesem Stolz die Freude an der weiten Landschaft, die den Blick öffnete über die Hügelketten des Westerwaldes. Der Milchmann genoss die Fahrt über die Höhen und durch die Täler und fand, dass er Glück hatte mit seinem Leben. Er liebte die Natur und während der fünfunddreißig Jahre seines Unterwegs seins hatte er sie gut kennengelernt. Dennoch erfreuten ihn die wechselnden Gewänder der Landschaft in den verschiedenen Jahreszeiten jedes Jahr neu. Zogen ihn die Farbspiele, erzeugt von schnell ziehenden Wolkenbändern, die ihre Schattenbahnen auf die Wiesen und Wälder warfen, immer wieder in ihren Bann. Genoss er es, morgens oft noch in der Dämmerung in den Tag hinein zu fahren und abends die Ruhe zu spüren, wenn das Licht matter wurde und die Geschäftigkeit unterwegs zur Ruhe kam.

Wenn er aufbrach, wußte er, er würde auch diesmal unterwegs sein, wie er es jedesmal war. Er würde über die Dörfer fahren, jedes Ziel würde so gut wie das andere sein, bis er am Ende des Tages um einen Großteil seiner Ware erleichtert seinen Wagen wieder zurück in die Stadt lenken würde. Er würde über die engen kurvenreichen Straßen fahren, die steilen Anhöhen hinauf und wieder hinunter ins Tal, hin zum nächsten Dorf oder Hof, von einem Ort zum anderen. Er würde all die Menschen treffen, die er dort Woche für Woche und Jahr für Jahr dort antraf, er würde sie mit ihren Einkaufskörben beobachten, ihren Geschichten zuhören, ihr Lachen und ihre Freude erleben, er würde von ihrer Trauer und ihren Sorgen hören, von Geburten, Hochzeiten und Todesfällen und er würde mit ihnen auf ihre Geburtstage anstoßen. Er würde den Kaffee und die Speisen genießen, die sie ihm aus ihren Häusern mitbrachten, und für diese kurze Zeit seiner Anwesenheit dazugehören, zu ihrem Leben auf den Höfen, auf den Feldern und in kleinen Dörfern. Die meisten seiner Kundinnen kamen aus Familien, die von ihrem kleinen Hof und harter Feldarbeit lebten. Manche verdienten sich ihren Lohn bei ihrer Arbeit im großen Walzwerk in der Stadt. Seine Halteplätze waren überall und auch dort, wo Menschen ihm zuwinkten, selbst wenn es während der Feldarbeit an den steilen Hängen war. Er kam zu ihnen in dem Wissen, dass sie ihn brauchten und auf ihn warteten. Meist waren es die Frauen, die Einkaufsnetze und Portemonnaie schon bereit gelegt hatten, wenn die laute Klingel ertönte und sie den Verkaufswagen an den üblichen Stellen auf der Straße entdeckten. Dann kamen sie aus ihren Häusern, riefen sich gegenseitig etwas zu, hakten sich beieinander ein, blieben in kleinen Grüppchen plaudernd miteinander stehen und begrüßten ihn schon von weitem freudig. Sie genossen die Unterbrechung in ihrem Alltag, drängten in den Wagen, begutachteten die Waren, legten das Ausgewählte in ihren Korb, verlangten das besondere Brot und die gute Fleischwurst. Sie wußten, was sie wollten, hatten die Ware vielmals getestet und für gut befunden. Und sie schätzten, was sie bekamen. Der Milchmann sah ihnen zu bei ihrem Treiben, beriet, wo er Unsicherheit wahrnahm oder Fragen, stellte neue Ware vor und notierte, was er an Wünschen hörte. Sie nannten ihn beim Vornamen und ließen ihn teilhaben an ihren Erzählungen von den Tagesereignissen, den Sorgen in der Familie ebenso wie von vergangenen oder erwarteten Freuden. Er hörte stets aufmerksam zu, fragte nach und nickte verstehend. Wenn es einmal laut wurde zwischen den Kundinnen, dann verstand er es, mit einem Lächeln und ein wenig Humor den Blick schnell wieder zu weiten. Er hatte viel gesehen und gehört in all den Jahren und wußte, dass sie kommen und gehen würden, all die Gefühle, die freudvollen und die von Trauer und Wut erfüllten, so wie auch er mit seinem Milchwagen kam und ging. Und wenn er sich wieder auf den Weg machte zu seinem nächsten Halt und das surrende Motorengeräusch langsam die Stimmen auf der Straße verblassen ließ, dann ließ er auch all die Geschichten, die schönen und die weniger schönen, bei ihren Erzählerinnen zurück und lenkte seinen Blick wieder auf die engen Straßen, die kleinen Bauernhäuser und die Felder um ihn herum. Er war wieder unterwegs und es begleiteten ihn die Vögel mit ihrem Flug über Wiesen und Wälder, die Sonne, die durch die Wolken brach und der aufkommende Regen. Sie waren bei ihm gut aufgehoben, die Geschichten aus dem Milchauto. ‚Respekt,’ sagte er oft. ‚Das Wichtigste ist Respekt’. Und seine Kunden wußten, wovon er sprach. Und er wußte, wenn ein paar Tage ins Land gegangen waren, hatten sie sich schon wieder verändert, die Geschichten. Und auch er, immer wenn er kam und die Glocke an seinem Wagen ertönte, brachte frischen Wind aus der Umgebung mit, die Sonne von den Höhen und das Glucksen vom Flussbett der Nister. So lichtete sich der Alltag in den kleinen Dörfern jedesmal ein wenig und öffnete das Tor einen kleinen Moment für ein Lachen, einen Scherz, einen Blick in eine Welt, in der alles seinen Platz zu haben schien. Und wenn der Milchmann am Abend oft spät von seiner Mittwochstour zu seiner Familie zurückkehrte, dann wußte er, dass er seine Arbeit getan hatte und freute sich darüber. ‚Ich würde es wieder tun‘, sagte er zwanzig Jahre später. ‚Ich würde es immer genau so wieder tun.“ (Text: Elfie Strauß)