Onkel Jupp wird beim Bahnübergang empfangen. Ich stehe hinter seinem linken Arm. Rechts neben meinem Onkel steht Pfarrer Schneider. Dahinter Maria und Doris
Links der Vermisste Franz Himmerich
Private Primizfeier von Hermann Dickob
Wir Jungens waren immer ganz gespannt, wenn eine Kuh zum "Oosebennert" geführt wurde. Man verschloss wegen uns zwar das Tor, wir durften ja nicht zusehen, wenn der Ochse - so nannte man in Herschbach den Bullen - die Kuh besprang. Aber wir haben es doch gemacht. Durch die Ritzen haben wir dem Vergnügen des “Ochsen“ zugeguckt. Sein inbrünstiges Gebrüll konnte man weit hören. Das war was ganz spannendes für uns. Danach haben wir dann Witze darüber gemacht.
Am 1. Mai wurde immer ein Seifenkistenrennen auf dem Oberherschbacher Weg organisiert. Die wenigen Ausgaben beglich die Gemeinde, die Organisation übernahm der Kur- und Verkehrsverein. Schon Wochen zuvor bauten Jugendliche in den Scheunen an ihren Kisten herum. Aber dem "Rennwagen" von Schards Werner konnte niemand davonfahren. Dies war auch kein Wunder. Sein Papa hatte ein Busunternehmen und somit die Möglichkeit, die Schnittigkeit wie auch die Lenkung profihaft zu gestalten. Nachmittags war dann bei Wirtgens Saal Wurstschnappen. Eine Fleischwurst wurde an einem Stab hängend über den Köpfen der Kinder hin und her geschwungen. Die Kinder sprangen hoch und versuchten in die Wurst zu beißen. Sowas sollte man heute mal anbieten.
Im Jahre 1955 feierte Hermann Dickob Primiz. Für uns Messdiener eine besondere Aufgabe an dem Gottesdienst mitzuwirken.
Im September des gleichen Jahres reiste Bundeskanzler Adenauer mit einem großen Tross nach Moskau, um über die Rückkehr der Kriegsgefangenen zu sprechen. Da die Unterredungen mit der russischen Führung anfangs sehr schleppend verliefen, benutzte die deutsche Delegation einen Trick. Sie gingen davon aus, dass alle ihre Unterkünfte verwanzt waren. Es gab sinngemäß abends folgende Unterredung: "Wenn die Russen morgen keine Zugeständnisse machen, fliegen wir sofort nach Hause." Diese "geheime" Absprache funktionierte. Morgens versprachen die Führer Russlands den Deutschen, dass alle Gefangenen nach Hause dürften.
Nach diesem Besuch kamen vier Wochen später die ersten "Kriegsheimkehrer", die zehn Jahre und länger ihr Leben in Russland fristen mussten, nach tagelanger Fahrt in Waggons auf dem Bahnhof Herleshausen an. Von dort wurden sie mit Bussen zum Auffanglager Friedland gefahren. Tausende waren gekommen, um hier den Vater, den Sohn, den Mann, den Onkel wieder in die Arme schließen zu können. Viele, vor allem Frauen, standen auch dort mit einem Schild in der Hand. Darauf stand, oft mit einem Foto versehen: "Kennst du den oder den?" Die meisten kehrten ohne Antwort enttäuscht nach Hause zurück. Im Fernsehen, welches in schwarz-weiß den ganzen Tag berichtete, wurde am ersten Tag ein Bericht gezeigt, in dem abgehärmte Männer in heruntergekommener Kleidung sangen: "Nun danket alle Gott." Onkel Jupp war, so habe ich später erfahren, in einer belasteten Kompanie gewesen. Viele Männer dieser Kompanie sind entweder in Gefangenschaft umgekommen oder kamen erst 1955 nach Hause.
Zurück zur Ankunft meines Onkels. Es hieß: "Dein Onkel Jupp kommt auch nach Hause. Er kommt nach Friedland." Viel konnte ich mir darunter nicht vorstellen. Ich wusste nur, dass an einen Onkel immer wieder Päckchen nach Russland geschickt wurden. Da musste genau geschaut werden, was in so ein Päckchen hineindurfte. Plötzlich hieß es dann 1955: "Jupp hat Nachricht geschickt. Er kommt!" Seine Frau, der Bürgermeister und ein Fahrer sind am nächsten Tag nach Friedland gefahren. Die Brüder und Schwestern von Onkel Jupp mussten zu Hause den Empfang vorbereiten. Ich habe Stunden bei Chewings vor dem Fernseher gesessen und aufmerksam geschaut, ob ich nicht die Herschbacher mit meinem Onkel sehen würde. Vergebens. Einen Tag später wurde abends mein Onkel von der Gemeinde am Bahnübergang nach Selters empfangen. Die gesamte Gemeinde hatte sich versammelt. Die Verwandten waren natürlich auch da. Seine Brüder hatten ihn bereits vorher in Selters am Bahnhof begrüßt. Hier mussten sie etwas warten, da die Empfangsvorbereitungen in Herschbach noch nicht abgeschlossen waren.
Nach kurzer Begrüßung am Anfang des Ortes formierte sich ein Zug die Selterser Straße hinunter mit Musikverein und beschützt von der Feuerwehr bis in die Hauptstraße zum Elternhaus. Hier wartete die Mutter des Spätheimkehrers. Der Nachwuchs der Schwestern und Brüder wurde dem Onkel kurz vorgestellt. Es wurde viel geheult. Auf die jammernde Frage seiner Mutter: "Os Fränzjen, os Fränzjen", gab Onkel Jupp die knappe Antwort: "Dä kemmt och noch." Mein Onkel Franz kam aber nie mehr zurück. Er war nach dem verlorenen Afrika-Feldzug nach Russland versetzt worden. Vor diesem Einsatz war er aber nochmals zu Hause. Einen Tag vor seiner Abfahrt soll er seiner Nichte gesagt haben: "Ich komme nicht mehr wieder." Ähnliche Dinge habe ich schon öfter gehört. Franz gilt als vermisst. Folgendes habe ich erfahren: Mein Onkel Franz fuhr in einer kleinen Kolonne - drei oder vier LKWs - durch einen Wald in Russland. Sie wurden von Partisanen angegriffen. Er saß auf dem hintersten LKW. Alle LKWs kamen durch, nur der letzte nicht. Wenn ich mir überlege, was speziell die Mütter und auch Ehefrauen damals, während und nach dem Krieg, durchgestanden haben, frage ich mich, wie haben die das geschafft. Antwort: "Sie mussten, ob sie wollten oder nicht."
Weiter zur Heimkehr meines Onkel Jupp. Nach dem Besuch im Elternhaus gab es im Gotteshaus den sakramentalen Segen. "Großer Gott" wurde aus allen Kehlen in der überfüllten Kirche feierlich angestimmt. Beim Wohnhaus des Heimkehrers brachten Vereine noch ein Ständchen und es wurden Willkommensreden geschwungen. Ein Redner wollte gar nicht aufhören. Dann konnte Onkel Jupp endlich in aller Ruhe die näheren und weiteren Verwandten während eines Imbisses kennenlernen. In den Jahren nach seiner Rückkehr habe ich mich leider zu wenig mit ihm über seine Gefangenschaft in Russland unterhalten. Ich weiß zwar einiges, aber zu wenig. Heute ärgere ich mich. Ich war noch zu jung, um Fragen zu stellen. Ich weiß, dass er zeitweise in einem Bergwerk im Ural arbeiten musste. Dort seien die deutschen Gefangenen in den ersten Jahren "verreckt" wie die Fliegen. Es gab Schläge und nur wenig zu essen. Seine Frau Maria erzählte mir nach dem Tod meines Onkels, dass dieser einmal im Lager so weit heruntergekommen war, dass er seinem Leben ein Ende setzen wollte. Die Hoffnung auf eine Heimkehr sei von Jahr zu Jahr geringer geworden. Ein Gebet zur Gottesmutter Maria hätte ihn aber von seinem Vorhaben abgehalten. Onkel Jupp hatte sich sehr schnell wieder in seinem Heimatort eingelebt und wurde bei der nächsten Gemeinderatswahl in diesen gewählt. Er kannte die örtlichen Begebenheiten und wurde als aktives Ratsmitglied wiedergewählt. Er verstarb 1976 an den Folgen der Gefangenschaft.
Einige Tage nach der Rückkehr von meinem Onkel kam noch ein weiterer Spätheimkehrer nach Herschbach zu seiner Bekannten. Es war aber kein ursprünglich Herschbacher. Trotzdem wurde er mit Musik von der Gemeinde empfangen. Winfried Himmerich