Foto: Doreen Bindseil, Stadt Bad Ems
Am Abend des 9. November trafen sich etwas mehr als 100 Bürgerinnen und Bürger sowie Vertreter der jüdischen Gemeinde und der Ökumene, um auf Einladung des evangelischen Dekanats Nassauer-Land und Pfarrerin Antje Müller den Opfern der Novemberpogrome aus Bad Ems zu gedenken.
Unter den Gästen und Rednern waren auch der Bad Emser Bürgermeister Oliver Krügel sowie die Erste Kreisbeigeordnete Gisela Bertram.
Klassenleiter David Schmidl und seinen Schülerinnen und Schülern zeigten wieder ihr Engagement um die Aufarbeitung des Holocaust.
Sie berichteten dem Publikum von einige schrecklichen Schicksalsgeschichten und trugen unter anderem gegen Ende der Veranstaltung die Namen der Opfer vor.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden" wurden nachweislich 78 gebürtige beziehungsweise längere Zeit in Bad Ems ansässig gewesene jüdische Bürger Opfer des Holocaust.
Gedenken ist und bleibt wichtig
Gerade in Zeiten eines neuen Nahostkonflikts sehen wir derzeit wieder in unserer Gesellschaft antisemitische Tendenzen. Dabei wird bewusst die Religion des Judentums mit dem Staat Israel gleichgesetzt und Menschen diskriminiert, die hier in unserem Land friedlich leben.
Stadtbürgermeister Oliver Krügel ist allen Beteiligten an der Organisation und allen Teilnehmern sehr dankbar für dieses deutliche Zeichen.
"In unserer Stadt darf es keine Rolle spielen, welche religiösen Ansichten man hat", betont er.
Stadtbürgermeister Oliver Krügel hielt nachfolgende Rede:
Der 9. November ist ein Schicksalstag in unserer Deutschen Geschichte, davon zeugen die vielfältigen Ereignisse, die wir mit unserem heutigen Wissen und in einer Wertegemeinschaft bewerten.
1989 fällt am 9. November das Symbol der deutschen Teilung, die Berliner Mauer. 1848 hingegen wurde der Abgeordnete und Demokrat Robert Blum im Rahmen der "Märzrevolution" hingerichtet, weil er zum Kampf um mehr Freiheit aufrief.
Am 9. November 1918 musste Kaiser Wilhelm II abdanken, Philipp Scheidemann - ein führender Sozialdemokrat - rief die Deutsche Republik aus. 1923 scheiterte der sog. "Hitlerputsch" und damit der Versuch einer gewaltsamen Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. 1938 während der Novemberpogrome, fanden in der Nacht vom 9. auf den 10. November die Reichspogromnacht statt. Sicherlich trauriger Höhepunkt in der Betrachtung dieses Datum in unserer deutschen Geschichte.
Nachdem uns die Schülerinnen und Schüler der Realschule Plus zum historischen Kontext hier in Bad Ems berichtet haben, darf ich über das "Hier und Jetzt" sprechen. Gegen das Vergessen!
Was haben wir aus diesen Geschehnissen gelernt und wie geht unsere Gesellschaft mit offenem Antisemitismus um?
Nun ja... alle die sich hier versammelt haben, sind sicherlich meiner Meinung, dass niemand in unserem Land beispielsweise wegen der Herkunft, der Hautfarbe, religiöser Ansichten, der sexuellen Orientierung oder körperlichen und geistigen Einschränkungen diskriminiert, verfolgt oder gar ermordet werden darf. Dies ist sicherlich die Kernbotschaft und schließt damit die Ablehnung gegenüber dem Antisemitismus ein. Doch trifft dies auf unsere Gesellschaft im Allgemeinen zu? Sicherlich hat ein überwiegender Teil unserer Gesellschaft die Lehren aus der Vergangenheit verinnerlicht, doch kommen immer lauter jene zu Wort, die beispielsweise die Angriffe der HAMAS-Terroristen legitimieren oder gar offen befürworten.
Jüngst wurden auf offener Straße in Berlin Jüdinnen und Juden jüngst beleidigt, angepöbelt oder sogar tätlich angegriffen.
Mehrere Attacken auf Menschen, die eine Kippa, die traditionelle jüdische Kopfbedeckung, trugen, wurden in den vergangenen Wochen bekannt, doch viele Übergriffe dringen gar nicht an die Öffentlichkeit. Denn es gibt auch Betroffene die davon absehen, zur Polizei zu gehen oder sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Angesichts antisemitischer Vorfälle in der Vergangenheit hatte Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, bereits davon abgeraten, sich in der Öffentlichkeit, etwa durch das Tragen einer Kippa, als Jude zu erkennen zu geben.
Man muss die militärischen Aktionen Israels im Gaza-Streifen nicht gutheißen oder kann sie ablehnen oder gar verurteilen, denn wir leben in einer Demokratie.
Allerdings sind diese Konflikte im Nahen Osten noch lange kein legitimer Grund, Menschen jüdischen Glaubens hier auf unseren Straßen in unserem Land offen anzufeinden oder Gewalt zuzufügen.
Meine Damen und Herren,
es hat sich etwas verändert in unserem Land. Das Klima ist rauer geworden; Hetze und Hass greifen nicht nur im Internet um sich. Rechtspopulisten, Antisemiten und Rassisten versuchen, einen Keil zwischen die verschiedenen Gruppen in unserer Bevölkerung zu treiben, und gefährden damit den gesellschaftlichen Frieden. Immer wieder wird versucht, Tabus zu brechen, die lange Zeit aus Respekt vor den Opfern selbstverständlich eingehalten wurden; bei Rechtspopulisten gehört es regelrecht zur Strategie, zu provozieren und die Grenzen des Sagbaren zu erweitern.
Hinterher kann man ja immer noch sagen, man habe es nicht so gemeint. Aber durch dieses ständige Löcken verschiebt sich das, was als tolerabel gilt.
Zum veränderten politischen Klima trägt auch die AfD mit ihren Verbalattacken bei. Die AfD duldet Mitglieder in ihren Reihen, die völkisch-nationale Auffassungen vertreten, die Geschichtsverzerrung betreiben. Prominentes Beispiel ist Björn Höcke der die Forderung nach einer, ich zitiere, "erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad" erheben.
Doch das Gedenken ist ein wichtiger Kompass für unsere Gesellschaft. Mit unserem Gedenken bekunden wir nicht nur Respekt vor den Opfern. Mit dem Gedenken zeigen wir, dass wir uns unserer Vergangenheit stellen. Und zwar der ganzen Vergangenheit.
Wir picken nicht nur die Rosinen aus unserer Geschichte heraus, wir setzen uns auch mit ihren dunklen Seiten auseinander. Wir möchten nicht, dass die Lehren, die nach 1945 gezogen wurden, wieder vergessen werden; wir stehen zu unserer Verantwortung.
Und das heißt heute angesichts der Übergriffe, der Provokationen, der Versuche, die Vergangenheit zu verharmlosen, zu relativieren oder gar zu leugnen: Wir müssen mehr tun, um gegen Antisemitismus vorzugehen.
Die ganze Gesellschaft ist aufgerufen, auf allen Ebenen. Wir müssen den antisemitischen Vorurteilen und Verschwörungstheorien begegnen. Wir müssen Konzepte entwickeln und wir müssen Wege finden, Heranwachsenden die NS-Zeit und ihre Bedeutung für unsere Gegenwart nahezubringen.
Ich weiß, es klingt banal und abgedroschen: Aber es ist und bleibt unsere Aufgabe, über die Vergangenheit aufzuklären. Wissen über das Nazi-Unrechtsregime, über Antisemitismus, über jüdisches Leben in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart muss immer wieder neu vermittelt werden. An jede nachwachsende Generation, an Zuwanderer und Geflüchtete, die aus Ländern zu uns gekommen sind, in denen Antisemitismus zum Alltag gehört. Dies sehe ich auch als unsere Aufgabe. Hier in Deutschland, in Rheinland-Pfalz und in Bad Ems.