Wie weit geht Gehorsamkeit? Christiane Fröhlig mimte ein Kaninchen, Heiko Weber einen Bären und Burgfestspiel Schauspieler Jörg Thieme einen Strauß und eine Krähe.
Alexander May, der Intendant der Mayener Burgfestspiele, überreichte Jörg Thieme zu Beginn der Veranstaltung das in einem verschlossenen Umschlag befindliche Skript, ehe sich der Burgfestspiel Schauspieler mit dem Publikum auf eine Reise in das Unbekannte machte.
MAYEN/EB. Ein Theaterstück, das ganz ohne Regisseur und ohne Proben auskommt und trotzdem für einen literarisch anspruchsvollen Abend sorgt: genau das erlebten kürzlich 44 Besucher im Innenhof des Alten Arresthauses. Der Abend mit Burgfestspiel-Schauspieler Jörg Thieme war weder eine Lesung, noch eine Theatervorstellung, sondern ein Experiment. Und explizit genau dieses Ziel verfolgt das Stück „White Rabbit, Red Rabbit“ des iranischen Autors Nassim Soleimanpour. Um es vorneweg zu sagen: Am Ende nahm die Handlung eine Wende, die der Autor sich wohl so nicht vorgestellt hatte und das Publikum überraschte.
Doch der Reihe nach: Burgfestspielintendant Alexander May übergab Jörg Thieme zu Beginn der Veranstaltung einen geschlossenen, mit einem roten Band versehenen Umschlag mit dem Text, den der gebürtige Teheraner Soleimanpour, voller Hoffnung und Energie im iranischen Shiras geschrieben hatte. Er habe das Stück schon mehrmals begleiten dürfen, erklärte Alexander May dem Publikum. „Sie haben den großen Vorteil, dass Sie das Werk von Nassim Soleimanpour jetzt gemeinsam mit dem Jörg Thieme entdecken dürfen. Der Schauspieler weiß seit etwas weniger als 48 Stunden, was ihn erwartet. Er hat ein paar Anweisungen bekommen.“ Der Autor habe die Freiheit seines Geistes benutzt, um seine Gedanken in die Welt hinaus zu tragen, erläuterte der Intendant. Bezüglich des Inhalts war Thieme bis zu diesem Zeitpunkt ahnungslos.
Der seinerzeit 29-jährige Iraner Nassim Soleimanpour war neugierig auf die Welt. Er hatte immer davon geträumt, sich durch das Schreiben zu befreien. Aber er war nicht frei. Jedesfalls (zu diesem Zeitpunkt) nicht frei genug, um reisen zu dürfen. Denn im Iran erhält ein junger Mann erst dann einen Pass, wenn er einen zweijährigen Wehrdienst abgeleistet hat. Nassim Soleimanpour hatte es nicht getan. Also konnte er nicht reisen. Vielmehr hatte er seinen in englischer Sprache verfassten Text, der inzwischen in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurde, auf eine ungewisse zeitlose Reise geschickt. Eine Reise, für die man keinen Pass braucht. Dies hatte zur Folge, dass sich seither Schauspieler auf der ganzen Welt der außergewöhnlichen Herausforderung stellen und den berührenden, poetischen und eindrucksvollen Text – ohne vorbereitet zu sein - vorlesen. Durch Jörg Thieme, den Leser des Skripts, trat der Autor am Samstagabend „in Echtzeit“ mit dem Publikum in Kontakt. Das theatralische surreale Spiel nahm seinen Lauf. Nicht nur Jörg Thieme, sondern auch einzelne Zuschauer wurden herausgefordert. Sie alle wurden durch ihr Mitwirken bereitwillig zum Spielball des Autors. Wurden sie von seinen Worten manipuliert? Die Namen der Besucher wurden gegen Nummern getauscht. Thieme ließ die Zuschauer durchzählen. Nummer 5 (Frauke Rexin) rührte nach Aufforderung des Autors in eines von zwei, auf einem Tisch stehenden Wassergläsern etwas Pulverartiges ein. Möglicherweise ein Gift? Wenn ja, wer sollte es trinken? Nummer 3 (Christiane Fröhlig) wurde zunächst zu einem weißen Kaninchen. Es hüpfte auf seinem Weg zu einem Theaterstück im Zirkus über die Bühne. Das Kaninchen bedeckte ein wenig später, nach dem es von einer Zuschauerin ein rotes Tuch bekommen hatte, seine großen Ohren. Diese hätten die fiktiven Zuschauer im Zirkus gestört. Und Nummer 9 (Heiko Weber) schlüpfte in die Rolle eines Bärs. Dieser hatte am Eingang des Zirkus das Kaninchen nach dem Ticket gefragt. Im weiteren Verlauf des Bühnenwerks stakste Jörg Thieme als hochbeiniger Strauß über die Bühne und stieß als Krähe lärmende krächzende und nervige Laute aus. Auch fünf weitere Zuschauer folgten der Aufforderung des Autors und des Vorlesenden. Sie wurden als Kaninchen Teil des Spektakels. Ausnahmslos alle folgten den Anweisungen des Autors. Doch wie wäre das Stück wohl weitergegangen, wenn auch hier nur wenige oder keiner aus dem Publikum mitgewirkt hätte? Hatte der Autor, der vorsichtig sein musste, was er schrieb, damit gerechnet dass die einzelnen Nummern seinen Anweisungen Folge leisten? Ja! „Ich stelle Sie mir vor“, hatte Jörg Thieme aus dem Skript vorgelesen: „Es ist egal, wie viele Jahre nach dem Verfassen dieser Sätze Sie zum Publikum dieses Stücks werden. Sie müssen bedenken, dass es sich wie Freiheit anfühlt, zu wissen, dass es diese anderen Menschen im eigenen Stück gibt. Und das es nach Freiheit schmeckt, mit meinen Worten in andere Welten zu reisen.“ Er schmecke es in dieser Sekunde. Souverän meisterten sowohl Jörg Thieme als auch alle anderen Mitwirkenden ihre Rolle. Und zum Schluss wandte sich der Autor an die Zuschauer: „Ich habe euch nicht gesehen, aber auf gewisse Weise sind wir uns doch begegnet und ich bin glücklich.“ Nassim Soleimanpours Regieanweisung an den Schauspieler lautete: „Ich möchte das Du zugreifst.“
Thieme forderte sodann jemanden aus den Reihen der Zuschauer auf, an seiner Statt weiter zu lesen, da er jetzt in die Rolle des „Probanden“ schlüpfte. Heiko Weber, der zuvor die Rolle des Bärs verkörperte, setzte die Lesung mit den Worten fort: „Ist dieser Schauspieler er selbst? Ist er jemand anderes? Spielt er eine Rolle? Ist er jetzt ein junger iranischer Autor?“ Und dann war es soweit. „Gleich werde ich ihn bitten zu trinken“, verkündete der Sprecher im Namen von Nassim Soleimanpour. „Welches Glas wird er wählen? Sie, liebes Publikum, können einfach da sitzen. Der Moment ist gekommen.“ Gehorsam greift Thieme nach den Gläsern. Der Schauspieler will trinken, doch dann springt eine Frau auf, und hält ihn davon ab! Thiem lässt sich nichts mehr vom Autor vorschreiben. Doch was wäre gewesen, wenn in einem der Gläser tatsächlich Gift gewesen wäre? Das tiefschürfende und nicht profane Thema regte die Besucher im Anschluss zur Reflektion und zu Gesprächen mit Jörg Thieme und Alexander May an.