Gerd (Jerry) mit Eltern in Kansas um 1945
Jerry Bernhard in Tangermünde 1991
Thorben Prox, Hannah Gehr, Jasmin Schwenke und Enna Woecht
Die Lesung der Stadtführerkinder und Jungen Stadtführer zum 21. Bundesweiten Vorlesetag am 15. November 2024
Alljährlich findet in Deutschland am 3. Freitag im November der Bundesweite Vorlesetag statt. Die Tangermünder Stadtführerkinder und Jungen Stadtführer sind seit vielen Jahren mit einem eigenen Programm dabei. Aufgrund der steigenden Gästezahlen findet die Veranstaltung seit einigen Jahren im Grete-Minde-Saal statt. Auch in diesem Jahr konnte sich der Stadtführernachwuchs über mehr als 100 Zuhörer freuen.
Die Stadtführerkinder und Jungen Stadtführer lesen stets Texte vor, die einen Bezug zur Tangermünder Heimatgeschichte haben. So erfuhren ihre Gäste bereits etwas über Grete Minde und den verheerenden Stadtbrand von 1617, über Kurfürst Friedrich I. und seine Kanone „Faule Grete“, selbstverständlich auch über Kaiser Karl und sein Wirken in Tangermünde, aber auch über Bruno, der 1945 als Flüchtlingsjunge nach Tangermünde kam.
In diesem Jahr lasen sie Ausschnitte aus dem Reisebericht von Jerry Bernhard vor, der wie Bruno ebenfalls seine Heimat verlor. Doch der Grund war ein anderer: Jerry Bernhards Familie hat jüdische Wurzeln und ihr Leben war während der Nazi-Herrschaft bedroht. Deshalb flüchteten seine Eltern Heinz und Dora Bernhard mit dem damals Dreijährigen im Jahre 1938 in die USA, wo Jerry Bernhard seit dieser Zeit lebt. Doch seine Heimatstadt Tangermünde hat er nie vergessen, denn seine Eltern hielten in ihm die Erinnerung an sie wach. Erst durch den Fall der Mauer konnte sich Jerry Bernhard seinen langgehegten Wunsch erfüllen, seine Heimatstadt wiederzusehen. Wenige Monate nach der Wiedervereinigung Deutschlands reiste er im Jahre 1991 nach Tangermünde.
Während der Lesung konnten die Zuhörer den bewegenden Moment nachempfinden, als am Ende der langen Reise endlich die herrliche Skyline von Tangermünde vor ihm auftauchte, er wenig später die Elbbrücke überquerte und er nach so langer Zeit wieder durch die Straßen seiner Geburtsstadt fuhr. Hier waren seine Vorfahren einst zu Hause. Jerry Bernhard war fasziniert von den Jahrhunderte alten Bauwerken: die Burg, die Stadtmauer mit ihren Toren und ganz besonders vom historischen Rathaus. Jedoch gab es Orte in unserer Stadt, die ihn wesentlich stärker interessierten. Dazu gehörte das große Kaufhaus inmitten der Tangermünder Altstadt, das von seiner Familie über fünf Generationen erfolgreich geführt wurde. Auch sein Elternhaus in der Albrechtstraße 14 wollte er unbedingt sehen. Noch heute erinnert er sich gern an den schönen Garten, in dem er seine geliebten Erdbeeren pflückte und wo er unbekümmert spielen konnte. Ein Ort, der ihn jedoch magisch anzog war der jüdische Friedhof, auf dem zahlreiche seiner Vorfahren die letzte Ruhe fanden. Anders als wir es von christlichen oder städtischen Friedhöfen kennen, sind jüdische Friedhöfe Orte ewiger Ruhe. Deshalb dürfen die Gräber nicht eingeebnet werden und können somit von den Nachfahren der Verstorbenen Jahrzehnte und oft sogar Jahrhunderte später noch besucht werden.
Entgegen der Nazi-Pläne hat der Tangermünder jüdische Friedhof die schreckliche Zeit des Hitler-Regimes und auch die DDR-Zeit überstanden, abgesehen davon, dass er inzwischen völlig verwildert war. Zwischen dem wuchernden Unkraut und Gestrüpp konnte Jerry Bernhard schließlich den Grabstein seiner Urgroßeltern Max und Bertha Bernhard ausfindig machen. Doch als er das Grab seines Großvaters Paul Bernhard entdeckte, musste er mit Entsetzen feststellen, dass die Grabplatte in viele Teile zerborsten war. Somit endete Jerry Bernhards erster Besuch in seiner Heimatstadt mit einem bedrückenden Gefühl. Auch stimmte es ihn traurig, dass ihn niemand nach dem Schicksal seiner Familie fragte.
Sechs Jahre später war es jedoch anders. Jerrys Vater Heinz Bernhard hatte von den USA aus mit dem Tangermünder Steinmetz Gehr Kontakt aufgenommen und eine neue Platte für Paul Bernhards Grab anfertigen lassen. Das war auch der Grund dafür, dass Jerry Bernhard ein zweites Mal nach Tangermünde reiste. Der jüdische Friedhof war inzwischen von der Magdeburger jüdischen Gemeinde in Ordnung gebracht worden, was ihn zufriedener stimmte. Als besonders angenehm blieben ihm die Begegnungen mit einigen Tangermündern in Erinnerung: mit der Gärtnerin Gisela Lange, mit der Familie Busse vom Hotel „Schwarzer Adler“ und ganz besonders mit deren Tante Käthe Brünsicke. Ihre Freude war riesig über ihre Begegnung mit einem Bernhard-Nachkommen und sie zeigten großes Interesse am Schicksal seiner Familie. An die Gespräche mit ihnen denkt Jerry Bernhard auch heute noch gern zurück, denn sie weckten in ihm ein gewisses Gefühl der Versöhnung.
Im Grete-Minde-Saal hörten die Gäste sehr aufmerksam und gespannt zu, was ihnen die Stadtführerkinder und Jungen Stadtführer vorlasen. Den Fähigkeiten entsprechend trug jedes Kind bzw. jeder Jugendliche einen längeren oder auch kürzeren Textabschnitt vor. Enna Woecht und Samira Post moderierten als erfahrene Junge Stadtführerinnen die Veranstaltung. Eine begleitende Powerpoint-Präsentation mit zahlreichen Fotos von der Familie Bernhard und Originalaufnahmen von Jerry Bernhards Besuch 1991 in Tangermünde machten die Lesung noch interessanter.
Da zahlreiche Stadtführer auch ein Instrument spielen können, umrahmten sie die Veranstaltung musikalisch.
Sowohl die Gäste als auch alle Mitwirkenden empfanden die Veranstaltung zum Vorlesetag als sehr gelungen.