Die Söhne Julius, Max und Helmut vor dem Haus Lange Straße 80
Paul und Lilly Bernhard mit den Kindern Hilde und Heinz
Ehepaar Berthold und Rosa Markus
Normalerweise ist ein Stolperstein ein schlecht in das Straßenpflaster eingefügter Stein, an dem man mit dem Fuß hängenbleibt. Der Künstler Gunter Demnig, der im Jahre 1992 damit begann, kleine quadratische Gedenktafeln (sogenannte „Stolpersteine“) auf Gehwegen zu verlegen, wollte keineswegs Fußgänger ins Stolpern bringen. Vielmehr sollen die Passanten beim Überqueren angeregt werden, kurz inne zu halten und die eingeprägten Informationen zu lesen. So soll an das Schicksal derjenigen Menschen erinnert werden, die während der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Selbstmord getrieben wurden.
Ein Stolperstein besteht aus einer 96 x 96 mm großen Messingplatte mit abgerundeten Kanten und Ecken, die in Handarbeit mittels Hammer und Schlagbuchstaben beschriftet wurde. Anschließend wurde an diese dünne Platte ein Betonwürfel angegossen, der zur niveaugleichen Befestigung des Stolpersteins im Straßenpflaster - meist direkt vor dem letzten frei gewählten Wohnhaus des NS-Opfers - dient.
Im Sommer 2023 wurde bereits der 100.000ste Stolperstein verlegt. Inzwischen gibt es sie nicht nur in Deutschland, sondern auch in 30 weiteren Ländern. Sie gelten als das größte dezentrale Mahnmal der Welt.
Mit der Verlegung der fünf Stolpersteine für die Familie Markus und sechs Stolpersteine für die Familie Bernhard am Donnerstag, 30. Mai 2024, wird Tangermünde nicht nur ein Teil dieses internationalen Kunstprojektes, sondern sorgt auch dafür, dass dieses dunkle Kapitel unserer Stadtgeschichte nicht in Vergessenheit gerät und auch in Tangermünde den NS-Opfern gedacht wird.
Die feierliche Stolpersteinverlegung beginnt am Donnerstag, 30. Mai 2024, um 16 Uhr vor dem ehemaligen Wohn- und Geschäftshaus der Familie Markus in der Langen Straße 80 direkt am Neustädter Tor.
Um 17 Uhr beginnt die feierliche Verlegung der Stolpersteine für die Familie Bernhard vor dem ehemaligen Bernhardschen Kaufhaus in der Langen Straße 20 (Geschäftsadresse Kirchstraße 49, neben NKD).
Den würdigen Abschluss der Stolpersteinverlegung bildet ein einstündiges Konzert mit jiddischen und hebräischen Liedern und Instrumentalstücken, das vom Gospelchor der Petrikirche aus Seehausen aufgeführt wird. Das Konzert beginnt am Donnerstag, 30. Mai 2024, um 18.30 Uhr in der Salzkirche. Kostenlose Eintrittskarten sind dort erhältlich. Aufgrund der begrenzten Plätze ist eine Voranmeldung nötig. Im Anschluss an das Konzert besteht die Möglichkeit, mit einigen Nachfahren der Familien Markus und Bernhard ins Gespräch zu kommen.
Ein ganz herzlicher Dank gilt allen, die mit Rat und Tat, aber vor allem mit ihren Spenden zum Gelingen des Stolperstein-Projektes für Tangermünde beigetragen haben.
Der jüdische Kaufmann Paul Bernhard (geb. 1874) betrieb in der Langen Straße 20 das größte und modernste Kaufhaus von Tangermünde. Er lebte mit seiner Frau Lilly (geb. 1880) und den Kindern Hilde (geb. 1905) und Heinz (geb. 1908) in der Wohnung über den Verkaufsräumen. Die Bernhards waren angesehene Bürger unserer Stadt und aktive Mitglieder der Tangermünder jüdischen Gemeinde.
Dem Boykottaufruf der Nazis gegen jüdische Geschäfte folgten die meisten Kunden der Bernhards nicht. Deshalb hoffte die Familie weiterhin auf die Solidarität ihrer Mitbürger. Paul Bernhard hatte im Ersten Weltkrieg für sein deutsches Vaterland gekämpft und hoffte deshalb, vor den Nazis sicher zu sein. Doch das war ein Irrtum. In der Reichspogromnacht am 9./10. November 1938 wütete ein Trupp SA-Männer vor dem Kaufhaus, beschimpften die Bernhards und beschmierte die Schaufenster. Das Kaufhaus wurde zu einem Spottpreis zwangsverkauft und arisiert. Paul und Lilly Bernhard fanden in der Albrechtstraße 14 Zuflucht.
Paul Bernhard litt an Diabetes. Als Jude bekam er weder die lebensnotwendigen Medikamente noch Diäterzeugnisse, was seine Krankheit so verschlimmerte, dass ihm im Tangermünder Krankenhaus ein Bein amputiert werden musste. Nach der Operation wurde er nicht ausreichend versorgt, was am 27.1.1941 zu seinem Tode führte. Er wurde 66 Jahre alt.
Lilly Bernhard erhielt von den Nazis die Aufforderung, sich am 14. April 1942 mit max. 25 kg Gepäck auf dem Magdeburger Hauptbahnhof einzufinden. Von dort aus wurde sie in das Warschauer Ghetto deportiert. Ob sie im Ghetto umkam oder in einem Vernichtungslager ermordet wurde, ist unbekannt. Sie wurde 61 Jahre alt.
Hilde Bernhard heiratete 1928 Hugo Herzberg (geb. 1899). Hugo war ein erfolgreicher Getreidegroßhändler in Rinteln, bis er von den Nazis gezwungen wurde, seine Firma aufzugeben. Dadurch verloren Hugo und Hilde ihre Lebensgrundlage. Sie fanden in Tangermünde Zuflucht. Hugo arbeitete zunächst im Kaufhaus der Bernhards mit. Am Tag nach der Reichspogromnacht wurde er von den Nazis gefangengenommen und für einen Monat im KZ Buchenwald eingesperrt. Dadurch sollte er gezwungen werden, Deutschland zu verlassen. Nach dem Zwangsverkauf des Kaufhauses verlor Hugo erneut seine Arbeit. Um Geld zu verdienen, arbeitete Hilde in der Schokoladenfabrik. Nach vielen gescheiterten Versuchen gelang es beiden 1940 mithilfe von Heinz Bernhard in die USA zu emigrieren.
Heinz Bernhard war als Schüler bereits vor Hitlers Machtergreifung judenfeindlichen Angriffen ausgesetzt. Einer seiner Lehrer hatte ihn vor die Klasse gestellt und an ihm die Rassenlehre und die negativen Eigenschaften der Juden erklärt. Obwohl Heinz daraufhin an das Gardelegener Gymnasium wechselte, war der angerichtete Schaden nicht wieder gutzumachen, sodass er trotz guter Leistungen die Schule vorzeitig verließ und eine kaufmännische Lehre aufnahm. Er arbeitete erfolgreich an renommierten Kaufhäusern, bis er 1933 entlassen wurde, weil er Jude war. Er kehrte nach Tangermünde zurück und arbeitete als Junior-Chef im Kaufhaus. 1934 heiratete er Dora Langstadt (geb. 1910). Sie schätzte die Lage der Juden in Nazi-Deutschland realistisch ein und drängte darauf, die Heimat zu verlassen. Dadurch rette sie nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihres Mannes, ihres Sohnes sowie das von Hilde und Hugo. 1938 emigrierten Heinz und Dora mit ihrem dreijährigen Sohn Gerd in die USA.
Der jüdische Tabak- und Zigarrenfabrikant Berthold Markus besaß eine Fabrik und ein Wohn- und Geschäftshaus in der Langen Straße 80. Seine verstorbene Ehefrau Hedwig hatte ihm die Söhne Julius (geb. 1900) und Helmut (geb. 1910) hinterlassen. Aus seiner zweiten Ehe mit Rosa Markus, geb. Zotstein (geb. 1892) stammte sein jüngster Sohn Max (geb. 1924). Die Familie Markus war in Tangermünde angesehen und gesellschaftlich aktiv. Berthold war Mitglied des Stadtrates. Helmut Markus sang im Chor der evangelischen Kirchengemeinde mit.
Berthold Markus fühlte sich zunächst vor den antisemitischen Angriffen der Nazis sicher, da er in der deutschen Armee gekämpft hatte und er und seine Familie keine praktizierenden Juden mehr waren. Doch er hatte sich geirrt.
Im Jahre 1934 wurde sein zehnjähriger Sohn Max von seinen Mitschülern an einem Strick um den Hals nach Hause gezerrt. Sie grölten Nazi-Lieder, beschmierten das Geschäft mit Farbe und schlugen die Scheiben ein. Kein Tangermünder griff ein. Daraufhin verließ die Familie Markus im Jahre 1935 Tangermünde und flüchtete in die Anonymität der Großstadt Berlin, um dort ihre Flucht aus Nazi-Deutschland zu organisieren.
1936 erhielten Berthold, Julius und Helmut die Ausreisevisa nach Argentinien - Max und Rosa jedoch nicht. Die Familie entschied, dass Helmut und seine kürzlich angetraute Ehefrau Dorothea allein nach Argentinien ausreisen sollten. Berthold wollte mit dem geistig behinderten Julius bei Rosa und Max in Berlin bleiben, bis diese ebenfalls die Ausreisegenehmigungen erhalten würden. Helmut gelang es jedoch nicht, die Einreise-Erlaubnis für seine Eltern und Brüder zu erhalten, was ihn für den Rest seines Lebens belastete.
Nach den Schrecken der Reichspogromnacht am 9./10. November 1938 versuchte die Familie Markus völlig verzweifelt, Nazi-Deutschland zu verlassen. Immerhin gelang es Rosa und Berthold, ihren 15-jährigen Sohn Max in einem landwirtschaftlichen Ausbildungsbetrieb auf Gut Winkel unterzubringen. Es handelte sich dabei um ein jüdisches Hachschara-Lager zur Vorbereitung Jugendlicher auf die Auswanderung nach Palästina/Israel.
Max gelang es, am Ende 1939 mit einer Gruppe von jüdischen Jugendlichen aus Nazi-Deutschland zu flüchten. Nach einem halben Jahr in Dänemark setzten sie ihre Flucht über Schweden, Finnland, Sowjetunion, Türkei und Syrien fort und wanderten am 24.12.1940 illegal in Palästina/Israel ein. Dort musste Max mit erst 16 Jahren ein neues Leben fern der Heimat und ohne seine Familie beginnen. Für den Rest seines Lebens war er zutiefst traumatisiert.
Julius Markus wurde wegen seiner geistigen Behinderung in die Heil- und Pflegeanstalt Wittenau bei Berlin eingewiesen. Die Patienten der völlig überbelegten Anstalt wurden vernachlässigt und hungerten. Am 12. Juli 1940 wurde er aufgrund des Euthansie-Programms in die Heil- und Pflegeanstalt Berlin-Buch verlegt, von wo aus er vier Tage später in die Tötungsanstalt Brandenburg deportiert wurde. Dort wurde er noch am selben Tag ermordet. Julius Markus war ein zweifaches Nazi-Opfer: als geistig Behinderter und als Jude. Er starb im Alter von 40 Jahren.
Berthold und Rosa Markus wurden von Berlin aus am 1. April 1942 ins Warschauer Ghetto deportiert. Ob sie dort oder in einem nahegelegenen Vernichtungslager den Tod fanden, ist nicht bekannt. Berthold Markus starb im Alter von 68 Jahren. Rosa Markus wurde 50 Jahre alt.