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Tangermünde
Ausgabe 5/2025
Geschichtliches
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Geschichtliches

Friedhofsgärtner Wilhelm Rethfeld vor den Gewächshäusern auf dem Friedhof

Chaos auf den Elbwiesen bei Fischbeck um den 12. April 1945

Wella Rethfeld am Grab eines unbekannten Soldaten

Erinnerungen an das Kriegsende in Tangermünde im April 1945 (Teil 2)

(Ein Bericht von Wella Rethfeldt, eingereicht von ihren Enkeltöchtern Irina Klipp und Angela Jahnke)

Wella Rethfeld wurde 1901 geboren und starb 1986 in Tangermünde. Sie war die Ehefrau des Friedhofsgärtners und Friedhofsverwalters Wilhelm Rethfeldt (1896-1971) und unterstützte ihn fast täglich bei der Arbeit auf dem neuen Tangermünder Friedhof an der Stendaler Straße. Als ihr Mann im Alter von 49 Jahren im Februar 1945 noch zum Kriegsdienst eingezogen wurde, musste sie dessen Arbeit auf dem Friedhof übernehmen. Somit fiel ihr (unterstützt von zwei polnischen Fremdarbeitern) die schwere Aufgabe zu, die letzten Opfer der Kampfhandlungen in und um Tangermünde auf dem Friedhof zu bestatten.

Der Tangermünder städtische Friedhof in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges

Trotz der schweren Tage im April und Mai 1945 stand auf dem Tangermünder städtischen Friedhof alles in herrlicher Blüte. Zwischen den umgestürzten und kaputt geschossenen Grabsteinen blühten Himmelsschlüssel und Veilchen. Liebevoll gepflanzte Stiefmütterchen leuchteten bunt und schön.

In die Kastanienbäume, die die Wege säumten, hatte die Artillerie erhebliche Lücken geschossen. Wie verwundet reckten sich zersplitterte Äste zum Himmel. Manche Bäume waren ihrer Kronen gänzlich beraubt worden oder ließen ihre zerborstenen Äste trostlos zur Erde hängen.

Ein großes, die Grabsteine überragendes hölzernes Kreuz hatte der Zerstörungen getrotzt. Oben, wo sich die beiden Balken kreuzten, wurde von der Inschrift soeben das Wort „Frieden“ vom Sonnenlicht angestrahlt. Unten am Fuß des Holzkreuzes lehnte unfriedlich und böse eine abgestellte Panzerfaust. Vögel, die während der Kampfhandlungen irgendwo Zuflucht gefunden hatten, waren inzwischen zurückgekehrt, flatterten herum und pickten auf den zahlreichen frisch aufgeschütteten Grabhügeln nach Käfern und Würmern.

In den letzten Kriegstagen waren immer mehr Särge mit Kriegsopfern auf dem Tangermünder städtischen Friedhof eingetroffen. Nicht nur Einheimische, sondern auch viele Unbekannte hatten hier ihre letzte Ruhe gefunden. Tangermünde wurde zur Endstation für so viele, die der Kriegsmaschinerie eines größenwahnsinnigen Mörders zum Opfer fielen. Brückensprengung, Fluss ohne Übergang, sinnloses Aufpeitschen der letzten Kugeln und Granaten. Was galt ein Menschenleben, während gleichzeitige Tausende umkamen und namenlos liegenblieben? Nun ruhen einige von ihnen hier: von ihren Vorgesetzten zum Sterben befohlene, teils unbekannte Soldaten, deren Leben hier an der Elbe endete. Fünf Minuten vor zwölf. Sie hielten schon fast die Klinke ihres Elternhauses in der Hand, wären mit frohem Gesicht eingetreten, hätten ihre Lieben in die Arme genommen und gesagt: „Ich bin zu euch zurückgekehrt.“ Unweit der Friedhofskapelle wurde eigens für sie ein Kriegsgräberfeld angelegt. Nur wenige der Grabsteine tragen Namen wie Reinhold Walter geb. am 13.6.1923 in Nürnberg, Oskar Vildaus aus Riga, Adolf Kastel geb. 19.9.1922 in Petschen. Von anderen blieb der Name unbekannt. Am 10. Oktober 1936 bekam irgendwo ein nun „unbekannter Soldat“ von seiner Braut L. E. seinen Ehering mit einem lieben Lächeln an den Finger gesteckt. Hatte sie es jemals erfahren, dass sich sein Grab auf dem Tangermünder Friedhof befindet?

Eines Tages kamen zwei Jungs im Alter von zwölf und sieben Jahren auf den Friedhof. In ihrer Mitte führten sie ihr fünfjähriges Schwesterchen. Alles an ihnen war gezeichnet von Strapazen und Entbehrungen. Keine Unbeschwertheit, die Kindergesichter sonst so weich erscheinen lässt, war in ihnen zu erkennen. Traurig schauten sie auf das Gräberfeld mit den frisch aufgeschütteten Grabhügeln. Der ältere Junge umarmte seine Geschwister und erklärte mir mit tränenerstickter Stimme: „Wir suchen unsere Mutter. Sie wurde auf der Brücke erschossen.“

Inmitten der vorwärtshastenden Menge, kurz bevor die Brücke gesprengt wurde, traf eine Gewehrkugel den Hals ihre Mutter. Das Blut schoss aus ihrer Wunde. Die Kinder schrien vor Entsetzen und versuchten verzweifelt, mit ihren kleinen Händen die Wunde zuzuhalten. Doch dann neigte sich ihre Mutter zur Seite und starb. Von den vorbeieilenden Soldaten wurden die Kinder an das Tangermünder Ufer gebracht. Nun suchten sie das Grab ihrer Mutter. Sie war eine der zehn unbekannten Frauen, die ohne jedes Erkennungszeichen hier beigesetzt wurden.

Viele Jahre sind inzwischen vergangen und auch eine neue Brücke überspannt den Strom.

Nach einer Weile hatten sich die Wunden an den Bäumen auf dem Friedhof verwachsen. Die Hügel der Unbekannten von 1945 waren dick mit Efeu umsponnen. Wieder einmal saß ich im wärmenden Sonnenschein auf einer Bank vor der Kapelle des Friedhofs. Da vernahm ich ganz in der Nähe den schwermütigen Gesang eines Mannes. Ich schaute zum Kriegsgräberfeld hinüber und entdeckte dort einen jungen Sowjetsoldaten auf der Einfassung eines Grabes. Sorgfältig füllte er eine Vase mit Blumen. Während auf seinem Gesicht der Schleier einer tiefen Traurigkeit lag, sang er sehnsuchtsvoll ein Lied aus seiner Heimat. Zunächst lauschte ich still, ging dann aber von Neugierde getrieben langsam hinüber. Ich spürte, dass ihn etwas bewegte, sei es Sehnsucht nach der Heimat oder nach seinen Angehörigen und Freunden. Während seine Hände die Blumen ordneten, schaute er zunächst freundlich in mein fragendes Gesicht, dann auf den Grabstein und sagte klar und deutlich „Mama“. Er zeigte auf die Inschrift, die lediglich das Geburts- und Sterbedatum einer unbekannten Person angab.

Ich setzte mich mit ihm auf eine Bank in der Nähe. Er sprach nur wenige Brocken Deutsch und ich noch weniger Russisch. Wir versuchten uns gestenreich zu unterhalten, was uns erstaunlicherweise gut gelang. Er erzählte, dass er des Öfteren Friedhöfe aufsuchen würde, um seiner toten Eltern zu gedenken. Zu diesen Friedhof zog es ihn besonders hin, denn hier hätte er ein Grab entdeckt mit genau denselben Geburts- und Sterbedaten wie die seiner Mutter. Es gelang ihm, mir zu erklären, dass seine Mutter in der fernen Heimat verwundet worden und dort begraben sei. Sein Vater war in den Kämpfen um Stalingrad gefallen. Dann versuchte er mir die Schönheit seiner Heimat zu beschreiben, indem er Palmen in den Sand des Weges malte. Er zeichnete mit dem Stock Häuser, die den herrlichen Bauten auf der Krim ähnelten.

Da saß dieser junge Sowjetsoldat neben mir. Er war kaum älter als mein eigener Sohn und zutiefst erfüllt von der Trauer um seine Eltern und der Sehnsucht nach seiner Heimat. Doch er lächelte mich an, fasste meine Hände und sprach: „Frieden“. Dann malte er einen großen Kreis in den Sand und schrieb hinein: „Мир во всем мире“ (Frieden auf der ganzen Welt.)