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Hüt un Lüd
Ausgabe 12/2025
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Inhalt

In der fernen Welt Elarion, wo die Nächte schimmern wie flüssiges Silber und selbst der Wind leise Melodien summt, bereitete man sich auf das Fest des Wintersterns vor. Es war die Zeit, in der sich Magie und Hoffnung vereinten – und in der selbst alte Feinde den Atem anhielten.

Am Rand des Elfenreichs, in einem winzigen Dorf aus gläsernen Baumhäusern, lebte die junge Fee Lyriel. Sie war kleiner als die meisten Feen, aber ihr Herz war größer als der ganze Frostwald. Seit Wochen übte sie heimlich einen Zauber, von dem niemand glaubte, dass eine unerfahrene Fee ihn beherrschen könne: den Lichtfunken, der am Wintersternabend in den Himmel steigen und die friedlichste Nacht des Jahres einläuten sollte.

Doch dieses Jahr drohte alles auszufallen.

Der Winterstern selbst – ein uraltes Himmelsjuwel, das einmal im Jahr am höchsten Punkt des Nachthimmels leuchtete – war spurlos verschwunden. Statt seines warmen Schimmers hing nur eine schwarze, unheimliche Lücke zwischen den Sternbildern.

Die Weisen von Elarion waren ratlos. Die Zauberer stritten, die Feen sorgten sich, und sogar die Drachen auf den Nebelgipfeln hatten ihre Flügel eingeklappt und schwiegen.

Lyriel jedoch spürte tief in sich, dass der Winterstern noch existierte. Irgendwo. Und irgendjemand musste ihn finden.

So machte sie sich – ohne Erlaubnis und ohne jede Erfahrung – auf den Weg in das Land jenseits des Frostwaldes: Morvath, das Reich des vergessenen Drachen. In den Geschichten hieß es, niemand kehre lebend von dort zurück. Aber Geschichten konnten irren … hoffte sie.

Als Lyriel die letzte Grenze aus glitzerndem Eis überflog, verdunkelte dichter Nebel den Himmel. Zwischen den Felsen hörte sie ein tiefes, unruhiges Grollen. Dann sah sie ihn: Azharek, den letzten Schattendrachen. Seine Schuppen waren schwarz wie die Finsternis hinter den Sternen, und seine Augen glühten wie zwei brennende Kohlen.

„Warum stört eine kleine Fee meinen Schlaf?“, dröhnte seine Stimme, so schwer, dass Lyriel fast vom Wind gerissen wurde.

Lyriel zitterte – aber nicht vor Angst. Vor Entschlossenheit.

„Weil jemand den Winterstern gestohlen hat“, antwortete sie. „Und ich glaube, du weißt etwas darüber.“

Azharek fauchte, und Funken tanzten um seine Schnauze. Doch dann sah Lyriel, wie etwas Seltsames in seinen Augen flackerte – etwas wie Schmerz.

„Er wurde nicht gestohlen“, sprach er leiser. „Ich habe ihn versteckt.“

Lyriel starrte ihn an. „Warum?“

Der Drache wandte den Blick ab. „Weil ich ihn brauche. Ohne sein Licht … kann ich nicht mehr träumen. Seit Jahrhunderten träumt kein Schattendrache mehr. Und ich wollte einmal fühlen, wie es ist, in Frieden zu ruhen.“

Für einen Moment schwieg Lyriel. In der Ferne heulte der Frostwind durch die Schluchten. Dann sagte sie sanft: „Aber ohne den Winterstern wird niemand in Elarion träumen können. Dein Frieden bringt uns Dunkelheit.“

Der große Drache senkte den Kopf. In seinen glühenden Augen spiegelte sich die kleine Fee – und seine eigene Einsamkeit.

„Kannst du mir helfen?“ fragte er schließlich, beinahe flüsternd. „Einen Traum zu finden … ohne den Stern zu stehlen?“

Lyriel legte eine Hand auf eine seiner gewaltigen Schuppen. „Ich glaube, ja. Aber du musst mir vertrauen.“

Sie flog einen Kreis um ihn, und ihr Staub begann zu leuchten – heller als je zuvor. Die Worte des Lichtfunkenzaubers sprudelten aus ihr heraus, nicht gelernt, sondern gefühlt. Magie, rein wie der erste Schnee, wirbelte in die Luft.

Dann berührte sie Azhareks Stirn.

Die Welt hielt den Atem an.

Der Drache schloss die Augen – und ein tiefer, sanfter Klang vibrierte durch Morvath. Aus seinem Inneren löste sich eine dunkle Wolke, all der Schmerz, die Einsamkeit und die Nächte ohne Träume. Und dann, langsam, glitt ein kleiner silberner Schein aus seiner Brust – der Winterstern, unversehrt und strahlender als zuvor.

Lyriel fing ihn in ihren Händen auf. Azharek öffnete die Augen, und zum ersten Mal sah Lyriel darin etwas anderes als Schatten: Ruhe.

„Danke“, sagte er.

„Komm zum Fest“, antwortete sie lächelnd. „Alle sollen sehen, dass auch ein Schattendrache Licht in sich tragen kann.“

Und so geschah es.

Als Lyriel in Begleitung des Drachen nach Elarion zurückkehrte, staunten alle Bewohner. Gemeinsam ließen Fee und Drache den Winterstern wieder an den Himmel steigen. Sein Licht erfüllte die ganze Welt – wärmer, heller und friedlicher als je zuvor.

Und Azharek? Er landete am Rand des Dorfes und lauschte zum ersten Mal einem Traum, sanft wie der Schnee, der leise auf seine gewaltigen Flügel fiel.

Seit jenem Wintersternabend wusste ganz Elarion:

Wahre Magie entsteht nicht aus Macht – sondern aus Mut und Mitgefühl.