Während sich einige ukrainische Geflüchtete davor fürchten, in ländlichen Regionen untergebracht zu werden, was oft mit ihren Erfahrungen zur Versorgungslage in der Heimat zusammenhängt, gibt sich das ukrainische Ehepaar Tatjana und Georgii N.* sehr zufrieden: Die Beiden fanden mit ihren fünf Kindern eine neue Bleibe in einem Haus in Tengling Igelsbach. Sie bewohnen nun einen Teil des Zweifamilienhauses, das ihnen der Freistaat Bayern zugewiesen hat, der dort insgesamt 20 Schutzsuchende, hauptsächlich Frauen mit Kindern, aus der Ukraine untergebracht hat. „Uns gefällt es sehr gut hier. Wir waren überrascht, wie herzlich wir auch von den Nachbarn aufgenommen worden sind.“ Das Leben auf dem Dorf in der Ukraine sei oft noch mit einer schlechten Anbindung und Versorgung verbunden, daher wollten viele lieber in eine größere Stadt, in denen es eine größere ukrainische Community gibt, oder wo sie oft Freunde oder Verwandte haben und leichter eine Arbeit finden, erklärt Georgii N. auf Ukrainisch, was Lyudmylla Zyablenko ins Deutsche übersetzt. Lyudmylla Zyablenko ist eine gebürtige Ukrainerin, lebt aber schon seit fast drei Jahrzehnten in Deutschland, in Taching am See. Sie wurde von der Verwaltungsgemeinschaft Waging am See fest angestellt, damit sie sich um die geflüchteten Menschen kümmert, die das Landratsamt Traunstein in Taching am See, in Waging am See und in Wonneberg untergebracht hat oder noch unterbringen will.
"Die Gemeinde wusste erst im letzten Moment, wer da in Igelsbach einziehen soll", berichtet die Dolmetscherin, die mit den Flüchtlingen vor Ort redet und sich freut, dass es ihren früheren Landsleuten in ihrer neuen Umgebung gefällt. Lyudmylla Zyablenko arrangierte das Gespräch auf Wunsch der Tageszeitung, die sich für das Schicksal der Geflüchteten interessiert. Bei diesem Treffen im Vereinsheim der Tachinger Feuerwehr zeigte sich, dass das Sprachproblem eine der größten Schwierigkeiten ist, mit denen die Schutzsuchenden fertig werden müssen. Denn die ukrainische Familie in Igelsbach spricht weder deutsch noch englisch. Ohne Dolmetscher wäre ein Interview mit der Zeitung also nur mithilfe eines Übersetzungsprogramms möglich gewesen. Die Versorgung auf dem Land sei für die Familie kein Problem. Sie sei mit dem eigenen Auto geflüchtet und könne es weiterhin benutzen. Damit komme sie überall hin, übersetzt Frau Zyablenko, ehe Georgii und Tatjana ihre Flucht mit den Kindern, von denen das kleinste damals gerade mal drei Monate alt war, näher beschreiben. Die Familie floh aus Irpin, einer einst mehr als 40.000 Einwohner zählenden Stadt am Ufer des Irpin, die etwa 27 Kilometer nordwestlich von Kiew liegt und zum Rajon Butscha gehört. Butscha erlangte weltweite Bekanntheit wegen des Massakers durch russische Truppen an hunderten von getöteten Zivilisten, die nach deren Abzug gefunden wurden. Irpin und der Flughafen Kiew-Hostomel wurden im März 2022 zum Schauplatz schwerer Kämpfe zwischen russischen und ukrainischen Truppen, mit etlichen zivilen Opfern. Große Teile der Bevölkerung wurde evakuiert. Die Stadt konnte von der russischen Armee nicht vollständig eingenommen werden. Ende März 2022 eroberte die ukrainische Armee das in Trümmern liegende Stadtgebiet zurück. Kurz nach Putins TV-Ansprache am 24. Februar 2022 stießen Medienberichten zufolge russische Bodentruppen von Belarus aus auf zwei Routen Richtung Kiew vor. Während Einheiten westlich des Dnipro das dicht bewaldete Grenzgebiet bei der Atomruine Tschernobyl überschritten, bewegte sich ein anderer Großverband östlich des Flusses auf die Großstadt Tschernihiw zu. Gleichzeitig landeten Hubschrauber mit russischen Fallschirmjägern auf dem Antonow-Flughafen bei Hostomel, etwa 20 Kilometer nordwestlich von Kiew.
„Ich war an diesem Tag um sechs Uhr morgens unterwegs zum Tanken, hörte von Weitem Raketeneinschläge und Schüsse, wollte aber gar nicht glauben, was da passiert, war völlig schockiert“, erzählt Georgii. Für die drei Kilometer bis zur Tankstelle brauchte ich 16 Stunden, es gab kein Vorwärts und kein Zurück, überall herrschte das totale Chaos. Die Tankstelle lag direkt neben dem Flughafen. Und auf einmal war ich mitten in einem Kriegsgebiet.“ Er habe zuschauen müssen, wie die Bomben vom Himmel fielen, die Raketen einschlugen. „Ich sah, wie die ukrainischen Militärfahrzeuge losbrausten. Das ging stundenlang so. Schauen Sie mich an, meine Haare sind in diesen Stunden tatsächlich grau geworden“, erinnert sich der 36-Jährige tief bewegt an diese grauenvollen Stunden. Er habe die militärischen Bewegungen der Fahrzeuge gar nicht richtig einordnen können. „Ich wusste gar nicht, was los war.“ Als ich nach dem Tanken endlich wieder daheim in der Stadt ankam, hörte ich, wie die Tankstelle, an der ich soeben getankt hatte, in die Luft flog. Da kriegten meine Kinder und meine Frau große Angst. „In unserem Haus bauten wir dann aus unseren Matratzen Höhlen und versteckten uns darin. Stundenlang harrten wir so aus. Wir sahen aber, dass es immer schlimmer wird, und flüchteten in den Keller einer Kirche. Auch andere Stadtbewohner rannten dorthin, so dass der Keller schnell rappelvoll war. Ein paar Freiwillige versorgten uns mit Wasser und mit Lebensmitteln in dieser Nacht. Am nächsten Morgen hieß es, dass die russischen Panzer anrollen. „Wer jetzt nicht flieht, kommt nicht mehr raus“, sei immer wieder gebrüllt worden. „So sprangen wir in unser Auto und nahmen noch eine andere Familie mit kleinen Kindern mit. Auch die hatte ein Baby mit sechs Monaten. Die vielen Stunden, die wir mit den Kleinen im Auto verbrachten, waren sehr anstrengend, auch weil wir nichts zu essen dabeihatten. Ich spürte, dass es nur ums nackte Überleben für mich und meine Familie ging. Es war ein Glück, dass ich genügend Sprit hatte, denn es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis man irgendwo tanken konnte. Unterwegs machte ich mir auch Vorwürfe, weil ich Befürchtungen von Freunden und Bekannten nicht ernst genommen hatte, dass es zu einem russischen Überfall kommen würde. Einige von ihnen haben sich darauf vorbereitet. Als wir endlich am Grenzübergang Dykovo ankamen, fanden wir dort alles völlig überfüllt vor. Es gab eine Riesenschar an Menschen und von Stunde zu Stunde wurde die Stadt voller. Wir sind dann über die Grenze nach Rumänien. Dort boten uns Pfarrer der katholischen Kirche Hilfe und Unterkunft an.
Georgii und seine Frau Tatjana betonen ausdrücklich, dass es die katholischen Priester in Rumänien waren, die ihnen weiterhalfen. „Nach einigen Tagen fuhren wir weiter nach Polen zu einem Verwandten. Dieser hatte sich auch schon um andere Flüchtlinge gekümmert und sorgte nun dafür, dass wir eine Bleibe finden. Ein polnisches Ehepaar nahm uns in ihrem Haus auf. Die Menschen in Polen waren sehr hilfsbereit und sehr entgegenkommend. Einige Supermärkte in Grenznähe öffneten sogar ihre Türen für die Ankommenden aus der Ukraine und stellten dort Betten auf und verteilten Nahrungsmittel.“
„Da an der Grenze aber viele Ausreisewillige festsaßen, fuhr ich mit meinem Auto tagelang hin und her, damit diese Ukrainer ohne Fahrzeug auf ihrer Flucht ebenfalls in Richtung Rumänien weiterkamen. Wenn man die Verzweiflung in ihren Gesichtern sah, konnte man gar nicht anders, als zu helfen“, meinte Georgii.
Er und seine Frau bestätigen immer wieder, wie gastfreundlich sich sowohl die Polen als auch die Rumänen ihnen gegenüber verhalten haben. „Sie gaben alles und verlangten nichts.“
„Aufs Geratewohl reisten wir dann weiter. Irgendwann kamen wir im Chiemgau, in der Gemeinde Übersee an und meldeten uns im Landratsamt Traunstein, das uns registrierte. Dort hatte sich eine verständnisvolle Familie aus Obing schon vorher gemeldet und eine Wohnung für Flüchtlinge angeboten, die vorübergehend zur Verfügung stand. Schließlich organisierte das Landratsamt die Wohnung in Tengling/ Igelsbach, wofür wir sehr dankbar sind. Es gefällt uns gut in Tengling, wir sind mitten unter den Leuten und fühlen uns von ihnen gut angenommen. Lyudmylla Zyablenko, die Nachbarn und andere freiwillige Helfer unterstützen uns, wo immer es nötig ist. Unsere drei größeren Kinder besuchen die Willkommensklasse der Schule und lernen Deutsch. Auch wir erhalten Deutschunterricht und haben schon einiges gelernt. Ohne Kenntnisse in der deutschen Sprache geht es nicht.“ Die Familie würde nämlich gerne hierbleiben und Georgii gerne arbeiten. Er hatte in Irpin ein eigenes Unternehmen und bot Live-Streaming Dienste für das Fernsehen und andere Anbieter an. Allerdings musste Georgii sein Equipment, die technische Ausstattung, die er dafür brauchte, in seiner Heimat zurücklassen. „Ich würde mich also freuen, wenn ich meine bisherige Tätigkeit auch hierzulande ausüben könnte.“ Aktuell sei er auf der Suche nach einer entsprechenden Stelle zum Beispiel bei einem Fernsehsender. „Deshalb bemühe ich mich, dass ich so schnell wie möglich Deutsch lerne. Wir betrachten es als Privileg, einen kostenlosen Kurs besuchen zu dürfen. Erst wenn wir uns verständigen können, sind wir wirklich angekommen. Wir hoffen, dass wir eine Perspektive haben und bleiben können, obwohl uns natürlich auch das Heimweh plagt.“
Im Namen seiner ganzen Familie möchte sich Georgii N. bei seinen neuen Nachbarn und allen hilfsbereiten Menschen aus dem Helferkreis in der Verwaltungsgemeinschaft bedanken, die ihnen ein herzliches Willkommen bereitet haben und ihre ehrenamtliche Aufgabe mit sehr viel Herzblut wahrnehmen und ihnen den Start hier erleichtern. Sein Dank gelte auch der Gemeinde Taching a. See mit Bürgermeisterin Stefanie Lang. Lang sowie ihre VG-Kollegen Hias Baderhuber und Martin Fenninger haben sich im Rat der Verwaltungsgemeinschaft dafür stark gemacht, dass Frau Zyablenko ihnen bei ihrem Neuanfang helfend zur Seite stehe. ac