Vor der Martinskirche startete die Stadtführung mit Harald Freiling (l)
Gebannt lauschte die Gruppe den Ausführungen Freilings.
Schreckliche historische Ereignisse, so glaubt man oft, finden weit entfernt statt. Doch wenn man genau hinschaut und den Schleier des Vergessens hebt, sieht man, dass der Schrecken auch hier in Kelsterbach war.
Zu einer Spurensuche nach den NS-Opfern in Kelsterbach hatte der DGB-Ortsverein gemeinsam mit Harald Freiling eingeladen, um diesen Schleier des Vergessens zu lüften. Der Tag der Erinnerung wurde bewusst auf den Jahrestag der Reichspogromnacht am 9. November 1938 gelegt.
Beginnend am alten Marktplatz vor der Martinskirche führte der Rundgang über die Untergasse zur Neukelsterbacher Straße und schließlich zum Friedhof. Harald Freiling ließ die rund 60 Interessierten anschaulich an seinen Rechercheergebnissen teilhaben, die er als Geschichtslehrer der IGS Kelsterbach gemeinsam mit seinen Schülerinnen und Schülern erarbeitet hatte. Die Stolpersteine auf dem Weg, von denen es in Kelsterbach 52 gibt, erzählen die Geschichte des jüdischen Lebens in Kelsterbach, der Flucht, des Tötens und des Überlebens im Exil.
Freiling schilderte unter anderem das Schicksal der Familie Hirsch aus der Untergasse, die dort eine Metzgerei betrieb. Er veranschaulichte, wie die älteren Familienmitglieder, wie Metzgermeister Daniel Hirsch, dessen Familie seit Jahrhunderten Teil der Kelsterbacher Gemeinschaft war, innerhalb kürzester Zeit erst ihre Lebensgrundlage und dann ihr Leben verloren – nur, weil große Teile der Wählerschaft glaubten: „Lass den Hitler mal zeigen, was er kann.“ Ein Trugschluss, wie sich im Nachhinein herausstellte, obwohl alle Anzeichen auf ein totales Machtstreben hindeuteten.
Der Anfang des Schreckens war die Bewachung der Türen jüdischer Geschäftsleute – wie Metzger Hirsch oder die Familie Adler – durch SA-Schergen, sodass sich kaum jemand mehr traute, dort einzukaufen. Es folgten öffentliche Denunziationen, Vertreibungen in Ghettos und schließlich der Tod in sogenannten Arbeitslagern. Menschen, die weiterhin mit Jüdinnen und Juden befreundet waren oder sie unterstützten, wurden in der NS-Zeitung Der Stürmer öffentlich angeprangert. So geschah es auch in Kelsterbach im Fall von Hans Beck, der mit Leo Hirsch, dem Sohn von Metzger Hirsch, befreundet war. Auf Gruppenfotos der Kerbeborsch stehen beide vor der Machtübernahme noch zusammen. Über den Stürmer wurde Hans denunziert und verlor seine Anstellung bei der Glanzstoff. Freundinnen, Freunde und Unterstützer jüdischer Mitbürger verloren ihr Recht auf gesellschaftliche Teilhabe, etwa auf eine Gemeindewohnung.
In der Neukelsterbacher Straße lebten zunächst Hugenotten, später viele jüdische Familien. Dort richteten sich die jüdischen Einwohner der damaligen Gemeinde Kelsterbach in einem umgebauten Wohnhaus eine Synagoge ein. Aus der Not heraus musste die verbliebene jüdische Gemeinde die Synagoge bereits verkaufen. Dieser Umstand – und vor allem die dichte Bebauung der Neukelsterbacher Straße, die bei einem Brand das ganze Viertel gefährdet hätte – führten dazu, dass die Braunhemden in der Reichspogromnacht von einer Brandstiftung absahen und lediglich die Inneneinrichtung zerstörten. Moritz Strumpf und Jakob Moritz wurden in der Pogromnacht verhaftet und kamen erst Wochen später schwer gezeichnet aus dem KZ Buchenwald nachhause.
Am Kelsterbacher Friedhof endete die Stadtführung durch diese dunkle Zeit mit einem Halt am „Nie wieder Krieg“-Denkmal mit der trauernden Mutter, das die Nazis einst vom Mainufer fortgeschafft hatten, um dort ein Kriegsdenkmal „den Helden des großen Krieges“ zu errichten. Ebenso wurde der Erinnerungsstein am ehemaligen jüdischen Friedhof besucht. Der NS-Bürgermeister Karl Busch hatte diesen Friedhof – und damit die letzte Ruhestätte vieler jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger – noch vor Kriegsende zerstören lassen und war nach dem Krieg zur Errichtung des Erinnerungsteins verurteilt worden.
Der DGB-Ortsverein unterstützt die Erinnerungsarbeit und dankt allen Besucherinnen und Besuchern des Stadtrundgangs – und Harald Freiling im Besonderen – für die ausführliche Ausarbeitung und anschauliche Darstellung der NS-Geschichte hier vor Ort. Die lebensnahe Erzählung am Beispiel von Kelsterbacherinnen und Kelsterbachern zeigt, dass die Geschichte des Schreckens nicht fern, sondern ganz nah ist – und dass nur, wer die Fehler der Vergangenheit kennt, sie in Zukunft vermeiden kann. (DGB)