Die Versammelten gedachten der Kriegstoten.
Der evangelische Bläserchor spielte auf dem Friedhof.
Der Gesangverein Einigkeit sang in der Trauerhalle.
Am vergangenen Sonntag hatte die Stadt Kelsterbach anlässlich des Volkstrauertags zu einer Gedenkfeier in die Trauerhalle des Friedhofs eingeladen, im Anschluss bezeugten die Versammelten vor den Ehrenmalen auf dem Ehrenfriedhof, vor denen die Stadt hatte Kränze niederlegen lassen, den Toten die Ehre. Der Gesangverein Einigkeit, Musikschuldozent Julián David Pérez Illera und der Evangelische Posaunenchor sorgten für die musikalische Ausgestaltung der Veranstaltung.
Bürgermeister Manfred Ockel sagte in seiner Ansprache in der Trauerhalle, der Volkstrauertag sei ein Tag des Gedenkens an die in den Kriegen Gefallenen, aber auch aktuelles Innehalten und Mahnung zum Frieden angesichts der vielen Kriegsereignisse in der Welt. Der Volkstrauertag stehe in diesem Jahr auch im Zeichen des Endes des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren. Dessen schreckliche Bilanz sei in Worten und Zahlen gar nicht zu greifen: Über 60 Millionen Tote, sechs Millionen ermordete Juden, 14 Millionen vertriebene Deutsche, unglaubliche Zerstörung in Europa und Atombomben in Japan, zählte Ockel auf.
Der Bürgermeister nahm sodann Bezug auf die berühmte Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, die dieser am 8. Mai 1985, 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, gehalten hatte. Weizsäcker hatte gesagt, die bedingungslose Kapitulation Deutschlands sei ein Tag der Befreiung vom menschenverachtenden NS-Regime gewesen. Zwar hätten nach dieser Befreiung für viele Menschen erst schwere Leiden begonnen, doch deren Ursache sei im Beginn der Gewaltherrschaft und im Beginn des Krieges zu sehen, nicht in dessen Ende. „Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen“, zitierte Ockel den ehemaligen Bundespräsidenten.
Ockel erinnerte auch an das Schicksal der Kelsterbacher Juden, das Harald Freiling erforscht und kürzlich bei einem Stadtrundgang erneut in öffentliche Erinnerung gebracht hat. Die sogenannte Reichpogromnacht am 9./10. November 1938 sei als Beginn des Übergangs von der Ausgrenzung der Juden hin zu deren systematischen Verfolgung und Ermordung zu betrachten, sagte Ockel. Nach der Pogromnacht hätten die Kelsterbacher Juden ihren Heimatort verlassen müssen, sie seien nach Frankfurt oder anderswohin gezogen. Gedenksteine in den Gehwegen vor den letzten Wohnstätten der Verfolgten erinnerten an deren Schicksal. Die Verfolgung der jüdischen Deutschen durch die Nationalsozialisten war indes letzten Endes das genaue Gegenteil dessen, was sich zahlreiche Juden, die im Ersten Weltkrieg für das Kaiserreich gekämpft hatten, erhofften: Dank für die Treue zu Deutschland und volle Gleichberechtigung.
Nur noch wenige Zeitzeugen könnten authentisch vom Krieg berichten, fuhr Ockel fort, deshalb sei es eine besondere Verpflichtung, nachfolgenden Generationen die Geschichte des Kriegs zu vermitteln. Aus der Geschichte lernen bedeute, die Ursachen des Kriegs zu analysieren und Zusammenhänge zu erklären. Der Bürgermeister leitete den Schluss seiner Ausführungen mit einem Zitat des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog aus dem Jahr 1996 ein: „Aus der Geschichte lernen zu wollen, bedeutet auch die Entschlossenheit oder zumindest die Bereitschaft, ‚es‘ in Gegenwart und Zukunft besser zu machen.“ Angesichts der vielen gewalttätigen Auseinandersetzungen weltweit sei an der Lernwilligkeit vieler Menschen allerdings sehr zu zweifeln. Der Volkstrauertag sei ein Tag des Gedenkens und auch der kritischen Reflexion. „Wir schauen heute nicht nur zurück, sondern auch voraus auf die Bewahrung des Friedens, unserer Demokratie und der Menschenrechte“, schloss Ockel seine Ansprache.
Draußen, auf dem Ehrenfriedhof, richtete Stadtverordnetenvorsteher Frank Wiegand das Wort an die Versammelten. Er eröffnete seine Ansprache mit einem Zitat des US-amerikanischen Hauptanklägers beim Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunal, Robert Jackson. Dieser hatte zur Eröffnung der Prozesse, am 21. November 1945, gesagt, Krieg sei seinem Wesen nach verbrecherisch – eine Kette von Tötung, Überfall, Freiheitsberaubung und Zerstörung von Eigentum. Wiegand machte darauf aufmerksam, dass sich in diesen Tagen der Beginn der Nürnberger Prozesse zum 80. Mal jährt. Er bezeichnete das Internationale Militärtribunal als einen Meilenstein in der Geschichte, sei doch zum ersten Mal der Versuch unternommen worden, Kriegsverbrecher gerichtlich zu belangen. Am Ende stünden die positiven Erkenntnisse, dass Kriegsverbrechen Verbrechen sind, Handlungen nicht durch den Krieg zu rechtfertigen sind, da der Krieg an sich schon ein Verbrechen ist, und dass Handeln auf höheren Befehl nicht von der persönlichen Verantwortung entbindet.
Zudem sei eine massive Aufklärung und Aufarbeitung der NS-Zeit in Gang gesetzt worden. Die Schrecken der Nazi-Herrschaft seien für alle sichtbar geworden, auch für die, welche zuvor die Augen verschlossen gehabt hätten. Verantwortung für die Geschichte zu übernehmen und deren Wiederholung, die erneute Ausbreitung von Hass, Gewalt und Terror, zu verhindern, sei eine Aufgabe, die sich jeden Tag stelle. Ein Blick auf den Globus zeige allerdings, dass Kriegstreiber die Welt nach wie vor in Blut tauchten. Statt zu resignieren, gelte es vielmehr, jeden Tag hinauszugehen, den Mund aufzumachen, vor den Schrecken zu mahnen, an den Terror zu erinnern und an die Opfer zu denken. Und nicht zuletzt solle man mit Zuversicht auf die Kraft des Völkerrechts vertrauen, sagte Wiegand. Jackson habe ebendiese Hoffnung mit den Worten ausgedrückt: „So dass Männer und Frauen guten Willens in allen Ländern frei leben können, keinem Untertan und unter dem Schutz des Rechts.“
Der Volkstrauertag ist dem Gedenken der Opfer der beiden Weltkriege sowie der Nazi-Gewaltherrschaft gewidmet. Er hat seine Ursprünge im Jahr 1919, als der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge die Einrichtung eines Gedenktages für die im Ersten Weltkrieg gefallenen deutschen Soldaten vorschlug. 1922 fand schließlich die erste Gedenkstunde im Reichstag statt. Nachdem die Nationalsozialisten an die Macht gelangt waren, benannten sie den Volkstrauertag um in „Heldengedenktag“ und verkehrten seinen Sinn ins Gegenteil, in Kriegsverherrlichung. Nach dem Ende der NS-Diktatur wurde der Volkstrauertag im Jahr 1950 mit der ersten zentralen Gedenkstunde des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge im Deutschen Bundestag in Bonn wiederbelebt. Der Gedenktag wird seit 1952 zwei Sonntage vor dem ersten Adventssonntag begangen. (wö)