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Kelsterbach aktuell
Ausgabe 8/2023
Seite 3
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Ein Jahr in Kelsterbach

Ein Interview mit Ukrainern über ihre Flucht und ihr Leben in Kelsterbach

Vor einem Jahr begann der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Kurz nach Kriegsbeginn flüchteten die ersten Menschen vielfach ins benachbarte Polen. Dann kamen auch viele Menschen nach Deutschland, so dass auch diese Menschen nun seit fast einem Jahr nicht mehr in ihrer Heimat leben und Zuflucht in Deutschland gefunden haben. Wir haben uns mit ukrainischen Flüchtlingen getroffen und mit ihnen über ihre Flucht gesprochen, aber auch wie ihr Leben heute in Kelsterbach aussieht. Die Interviews für Kelsterbach aktuell führte Anika Fabijanic. Die Übersetzung machte Larisa Liefke.

Wir sprachen mit Natalia Lychenko, die mit ihrer sechsjährigen Tochter Anna und ihrer Mutter Liubov seit März 2022 in Kelsterbach lebt. Aufgrund der Behinderung des Mädchens sind die drei im ehemaligen Step-Inn-Hotel, dem heutigen Ukrainezentrum, untergekommen.

Frau Lychenko, wie haben Sie die Ankunft in Kelsterbach vor einem Jahr erlebt? Haben Sie sich willkommen gefühlt?

Die Überfahrt war sehr schwierig. Wir waren ängstlich. Der komplette Zug war dunkel und blieb es auch die ganze Fahrt über. Der Zug, der vor uns abgefahren ist, war beleuchtet und wurde beschossen. Wir hatten Angst, dass uns das auch passiert. In unserem Zug waren 124 Familien mit Kindern, bestehend vor allem aus Müttern, Kindern und Großmüttern.

Als wir in Kelsterbach ankamen, wurden wir sehr herzlich empfangen. Die Kinder wurden mit Essen, Spielsachen und Kleidung begrüßt. Zuerst kamen wir in das Mercure Hotel. Dort gab es eine Kantine, so dass wir immer mit Essen und Getränken versorgt waren. Später kamen wir in das Ukrainezentrum. Hier gibt es auf jedem Stockwerk Gemeinschaftsküchen.

Wie empfinden Sie heute das Leben in Kelsterbach? Konnten Sie neue Menschen kennenlernen, vielleicht Freundschaften schließen?

Mittlerweile fühlen wir uns sehr wohl und sind mit den ganzen Anträgen durch, zum Beispiel auf Schwerbehinderung. Die Bürokratie hier war eine große Hürde, das kennen wir in dem Umfang zu Hause nicht. Wir sind seit März letztes Jahr hier und es hat bis jetzt gedauert, alle Anträge zu stellen und Nachfragen zu beantworten. Neue Menschen konnten wir nicht viele kennenlernen. Aber die Familien hier im Zentrum haben sich solidarisiert und mit den ehrenamtlichen Helferinnen besteht zum Teil eine Freundschaft. Probleme bereiten vor allem die Arztbesuche, wenn kein Dolmetscher zur Verfügung steht. Oft bekommt man gar nicht erst einen Termin, wenn kein Dolmetscher mitkommen kann, auch nicht, wenn man anbietet, dass der Dolmetscher sich über Telefon dazuschalten kann.

Können Sie Kelsterbach als Ihre aktuelle Heimat (auf Zeit) betrachten?

Die Stadt gefällt uns allen sehr gut. Mittlerweile haben wir uns gut eingelebt. Es ist eine schöne Stadt und man hat hier alles, was man zum Leben braucht. Ja, im Moment betrachten wir Kelsterbach als unsere Heimat.

Wie organisieren Sie ihr Leben hier?

Jetzt im Winter sind wir auf das Zuhause beschränkt. Im Sommer konnten wir viel unternehmen. Wir sind nach Frankfurt in den Palmengarten, nach Mainz und Wiesbaden gefahren. Auch hier machen wir viele Spaziergänge, zum Beispiel zum Staudenweiher.

Wie gestaltet sich der Schulalltag?

Der Antrag auf eine Teilhabe-Assistenz ist gerade in Bearbeitung. Wenn wir das genehmigt bekommen, kann Anna auf die Helen-Keller-Schule in Rüsselsheim gehen, die Kindern mit ihren Bedürfnissen gerecht wird.

Haben Sie die Möglichkeit einen Sprachkurs zu besuchen?

Bislang hatte ich keine Zeit, da ich mich intensiv um Anna kümmern muss. Nach unserer Ankunft habe ich einen Vorbereitungskurs gemacht. Wenn Anna in eine schulische Betreuung kommt, kann ich einen Intensivkurs belegen.

Welche Unterstützung würden Sie sich für Ihr Leben hier noch wünschen?

Ich wünsche mir mehr Rehabilitation für mein Kind. Durch die bürokratischen Hürden dauern alle Anträge in der Bearbeitung sehr lange und es kommen viele Nachfragen. Ansonsten sind wir sehr zufrieden. Unsere Beratung und Betreuung durch die Flüchtlingshelfer sind sehr gut.

Was machen Sie, wenn der Krieg ein Ende findet?

Wir wollen gerne nach Hause zurückkehren. Mein Vater ist in der Ukraine geblieben. Wenn wir telefonieren und Anna seine Stimme hört, freut sie sich sehr. Er sagt ihr am Telefon Gedichte auf. Wir vermissen ihn sehr.

Was ist Ihre Botschaft für die Menschen in Kelsterbach, in der Ukraine…?

Wir bedanken uns bei der Stadt und den Bürgern für die Unterstützung. Wir wissen, dass das auch eine finanzielle Belastung ist und sind sehr dankbar für die Hilfe. Auch im Alltag begegnet man uns freundlich.

Den Menschen in der Ukraine sage ich, sie sollen standfest bleiben und zusammenhalten. Wir hoffen, dass der Krieg bald vorbei ist und das Land wieder vereint werden kann.

Vielen Dank für das Gespräch.

v.l.: Natalia Lychenko mit ihrer Tochter Anna und ihrer Mutter Liubov

Auch Yuriy Kravchuk hat sich bereit erklärt, unsere Fragen zu beantworten. Der junge Familienvater lebte mit seiner Frau Olga und den vier gemeinsamen Töchtern seit zwölf Jahren in Kiew und ist mit der Familie vor einem knappen Jahr nach Deutschland gekommen.

Herr Kravchuk, wie haben Sie die Ankunft in Kelsterbach vor einem Jahr erlebt? Haben Sie sich willkommen gefühlt?

Wir bekamen von der Klitschko-Foundation die Anfrage, ob wir, als kinderreiche Familie, ausreisen wollen. Als wir das zugesagt hatten, kam schon einen Tag später die Bestätigung, dass wir am kommenden Tag ausreisen können. Wir hatten also nicht viel Zeit und haben nur das Nötigste an Kleidung und Dokumenten gepackt. Zum Zeitpunkt, als wir in den Zug eingestiegen sind, wussten wir noch nicht, wohin es geht. Nur, dass wir irgendwo in die Nähe von Frankfurt kommen.

Ab dem Kriegsbeginn, am 24. Februar, stand das Leben still. Unsere Arbeit war weg, unser Einkommen war weg, die Geschäfte bekamen keine Lebensmittel mehr nachgeliefert.

Als wir hier ankamen, waren wir überwältigt. Wir wurden im Mercure-Hotel untergebracht und sind sehr dankbar, wie gut alles kam. Das hatten wir nicht erwartet. Wir möchten der Verwaltung der Stadt Kelsterbach danken und allen Helfern. Wir wurden besucht, beruhigt, begleitet und man hat uns alles erklärt, damit wir uns sicher fühlen.

Wie empfinden Sie heute das Leben in Kelsterbach? Konnten Sie neue Menschen kennenlernen, vielleicht Freundschaften schließen?

Es gefällt uns sehr gut in Kelsterbach. Wir haben uns in die Stadt verliebt und möchten auch nicht wegziehen. Wir haben uns erklären lassen, wie man eine Wohnung sucht, wie teuer sie maximal sein darf, und dann haben wir uns eine Wohnung gesucht. Wir hatten hierbei viel Hilfe von einer ehrenamtlichen Helferin sowie von der Stadt und unserem Vermieter. Ich bin sehr dankbar dafür.

Die Sprachbarriere macht es schwer, neue Leute kennenzulernen. Wir werden aber mutiger und sprechen jetzt auch einfach mal drauflos, ohne zu viel Angst zu haben, Fehler zu machen. Und wir kennen uns mittlerweile auch schon besser aus, wissen, wie man Fahrkarten kauft und andere Dinge.

Haben Sie die Möglichkeit einen Sprachkurs zu besuchen? Wenn ja, wie gut kommen Sie mit der deutschen Sprache im Alltag zurecht?

Ich habe jeden Tag einen Deutschsprachkurs in Rüsselsheim. Ich finde die Sprache schwer, aber ich mag sie auch sehr und lerne gerne. Ich hoffe, ich spreche bald so gut, dass ich problemlos einfache Gespräche führen kann und mir dann auch eine Arbeit suchen kann.

Wie gestaltet sich der Schulalltag?

Für unsere zwei ältesten Töchter haben wir Schulplätze an der IGS bekommen. Die zweitjüngste geht in die Karl-Treutel-Schule. Alle Mädchen sind zufrieden und gehen sehr gerne in die Schulen. Die Jüngste ist im Moment noch nicht im Kindergarten. Meine Frau und ich wechseln uns in der Betreuung ab, so dass einer vormittags und einer nachmittags in den Sprachkurs gehen kann.

Welche Unterstützung würden Sie sich für Ihr Leben hier noch wünschen?

Wir sind wunschlos glücklich. Wir haben alles, was wir brauchen. Allen, die uns geholfen haben, sind wir sehr dankbar. Für die Wohnungshilfe, die gespendeten Möbel, den Helfern, die uns die Möbel gebracht haben. Für alles.

Was machen Sie, wenn der Krieg ein Ende findet?

Wir hoffen, dass der Krieg bald zu Ende ist. Krieg an sich ist schon schlimm. Aber dass in unserer heutigen Zeit Krieg stattfindet und so viele Menschen sterben müssen, ist schwer zu ertragen. Wir sind sehr besorgt um unser Land und um die Menschen, die zurückgeblieben sind. Wir hoffen, dass der Krieg bald mit dem Sieg der Ukraine endet. Die ganze Welt hat sich vereint, um der Ukraine zu helfen und den Hass zu besiegen. Wir sind allen Ländern sehr dankbar dafür.

Wir sind hierhergekommen aus Verantwortung unseren Kindern gegenüber. Um sie zu retten und sie nicht dem Krieg und dem ganzen Leid auszusetzen. Wir sind als Eltern dazu verpflichtet, dass unsere Kinder gut und sicher aufwachsen. Egal wo wir sind, wir bemühen uns, unseren Kindern ein Zuhause zum Wohlfühlen zu schaffen. Momentan ist das Kelsterbach. Aber wir möchten auch gerne in Deutschland bleiben, wenn es für uns die Möglichkeit dazu gibt.

Was ist Ihre Botschaft für die Menschen in Kelsterbach, in der Ukraine…?

Wir sind sehr offen und gehen gerne auf andere Menschen zu. Wir wünschen uns, dass auch mehr Menschen auf uns zugehen.

Den Ukrainern wünschen wir Mut und Geduld, um den Krieg zu überstehen. Wir sind um alle im Land gebliebenen Ukrainer besorgt. Besonders um die, die unschuldig betroffen sind und leiden müssen. Wie die Alten, die nicht fliehen können oder wollen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Yuriy Kravchuk hofft auf eine sichere Zukunft in Kelsterbach.