Ein Jahr Angriffskrieg auf die Ukraine lässt auch in Kelsterbach viele innehalten und das Jahr Revue passieren lassen. Für Kelsterbach aktuell sprachen wir mit Bürgermeister Manfred Ockel über den russischen Angriffskrieg und seine Vorboten, aber auch darüber, was es für eine Verwaltung bedeutet, plötzlich eine große Menge an Flüchtlingen unterbringen zu müssen. Das Interview führte Anika Fabijanic.
Stadt: Herr Bürgermeister Ockel, der russische Angriffskrieg am 24. Februar 2022 traf nicht nur die Ukraine, sondern auch die europäischen Staaten und die USA mehr oder weniger unvermittelt. Wie haben Sie die Nachrichten des Angriffs durch Russland wahrgenommen? Was dachten Sie damals?
Ich hatte im Vorfeld des 24. Februars immer gehofft, dass es noch in letzter Minute gemeinsame Verhandlungen gibt, um eine militärische Auseinandersetzung zu verhindern.
Leider haben mich die Bilder im morgendlichen Frühstücksfernsehen in die Realität geholt, was mich zutiefst getroffen hat.
In den Wochen und Monaten nach Kriegsbeginn begannen Recherchen verschiedener Medien und Wissenschaftler, die belegen, man hätte nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 damit rechnen können, dass Präsident Vladimir Putin weitere Regionen einnehmen will. Sehen Sie das auch so?
Ja, wir haben mit einer relativen Gleichgültigkeit diese Annexion verfolgt und damit wohl auch ein fatales Signal an den russischen Machthaber Putin gesandt. Die strategische Bedeutung haben ich und viele andere stark unterschätzt.
Der Schock über einen Angriffskrieg mitten in Europa und die daraus erwachsene Hilfsbereitschaft und Solidarität innerhalb der Bevölkerung waren enorm. Die Stadtverwaltung sowie Kirchen und Verbände haben schnelle Hilfen für Transporte und die Flüchtlingsaufnahme auf die Beine gestellt. Als Bürgermeister waren Sie in vielen kreisweiten Abstimmungsrunden. Welche Anforderungen an die Verwaltung gab es? Wie haben die Kommunen, speziell Kelsterbach, die Ankunft der Flüchtlinge vorbereitet?
Im Kreis Groß-Gerau hat unser gemeinsames Netzwerk hervorragend funktioniert. Natürlich sorgte die Corona Pandemie seit zwei Jahren für einen intensiven Austausch zwischen dem Kreis und den Kollegen in den Kommunen, was uns in diesem Fall zugute kam. Die Hilfsbereitschaft und Solidarität vieler Menschen haben uns nicht nur stark geholfen, sondern auch die Motivation gefördert, die Flüchtlingskrise gemeinsam zu bewältigen.
Konnte man absehen, wie viele Menschen und mit welchen Anforderungen nach Kelsterbach kommen?
Nein, wir wussten nicht, wer zu uns kam und wer noch zu uns kommen wird. Das lag daran, dass wir von Seiten des Kreises eine Mindestanzahl von Flüchtlingen ohne Details der Personen aufgenommen haben. Zudem kam eine große Anzahl von Flüchtlingen aufgrund persönlicher Freundschaften zu uns, die wir in unserer Stadt offiziell aufgenommen haben.
Kelsterbach hatte den relativen Luxus, aus dem ehemaligen Step-Inn-Hotel eine Flüchtlingsunterkunft, das Ukrainezentrum, zu machen. Wie unkompliziert hat sich dies tatsächlich gestaltet?
Sicher, solche Unterkünfte helfen für eine schnelle adäquate aber auch nur vorübergehende Bleibe. Doch das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch dort einige bauliche Veränderungen notwendig waren und auch die Unterkunftsverhältnisse sehr eng bemessen sind.
Wie sieht die kreisweite Abstimmung heute, ein Jahr nach Kriegsbeginn, aus? Hat sich so etwas wie Routine im Umgang mit Aufnahme und Integration von Kriegsflüchtlingen entwickelt oder sind die Entwicklungen zu unberechenbar?
Wir stehen weiterhin im Spannungsfeld, dass wir aus den Krisen – und Kriegsgebieten eine stetige Zunahme an Flüchtlingen haben, die sich in absoluter Not befinden und teilweise stark traumatisiert sind. Dies macht nicht nur notwendig, Unterbringungskapazitäten zu schaffen, sondern weit mehr an intensiver Betreuung und Integration zu ermöglichen. Sprachbarrieren überwinden, Kita- und Schulplätze bereitstellen, medizinische Betreuung und Versorgung sowie soziale Begleitung koordinieren, Beistand in besonders schwierigen Lebenssituationen, Hilfe bei den Verwaltungsangelegenheiten und vieles mehr….
Die Flüchtlingsarbeit in Kelsterbach scheint vorbildlich zu laufen. Sowohl das medizinische Angebot als auch Freizeitmöglichkeiten und integrative Maßnahmen für Kinder und Familien sind vielfältig, bieten Versorgung und Ablenkung vom Krieg. Im Juli besuchte der Generalkonsul Vadym Kostiuk Kelsterbach, im Oktober kam Präsidentengattin Olena Selenska im Zuge ihrer Auslandsreise in das Ukraine-Zentrum. Bestätigen Sie solche Besuche in Ihrer Arbeit und der der anderen Verantwortlichen?
Ich glaube, keiner von uns möchte in die Lebenssituation kommen, wie wir sie bei den Flüchtlingen erleben. Wir freuen uns, wenn wir für unsere Arbeit Anerkennung bekommen, doch für uns wichtiger ist, dass wir trotz der Not und dem Leid den Menschen ein Stück Geborgenheit und Sicherheit in Kelsterbach geben.
Was wünschen Sie den Menschen in der Ukraine und den Ukrainern, die hier Asyl gefunden haben für die Zukunft?
Der erste Wunsch ist natürlich, den Aggressionskrieg von Putin und den Machthabern aus Russland sofort zu beenden und dem ukrainischen Volk seine Souveränität wiederzugeben. Und dann steht der gemeinsame Wiederaufbau der Ukraine an. Dies ist eine europäische Aufgabe, an der wir uns alle aktiv beteiligen müssen. Aber an dem Jahrestag trauern wir zuerst um die vielen Menschen, die für diesen einseitigen Aggressionskrieg ihr Leben lassen mussten.
Vielen Dank für das Gespräch Herr Bürgermeister Ockel.