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Raunheim aktuell
Ausgabe 5/2025
Seite 5
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Abschied von Stadtverordnetenvorsteher Luca Kissel

Am 18. Februar 2025 hat Stadtverordnetenvorsteher Luca Kissel öffentlich erklärt, sein Amt und Mandat niederlegen zu wollen.

Bürgermeister David Rendel erklärte dazu: „Rund zwei Jahre lang hat Luca Kissel als Erster Bürger unserer Stadt mit Ruhe, Neutralität und Umsicht gewirkt – und das in politisch durchaus hitzigen Zeiten. Für dieses Engagement gebührt ihm großer Dank! Besonders schätze ich, dass Luca Kissel trotz seines Abschieds angeboten hat, den Prozess um seine Nachfolge zu moderieren.

Gerade in politisch herausfordernden Zeiten ist es wichtig, eine gemeinsame Lösung zu finden, die von allen Fraktionen mitgetragen wird und den demokratischen Gepflogenheiten entspricht. Eine breit getragene Entscheidung stärkt nicht nur das wichtige Amt des Stadtverordnetenvorstehers, sondern auch das Vertrauen in unsere demokratischen Prozesse. Auch aus eigener Erfahrung weiß ich, wie herausfordernd, aber auch wie bereichernd das Amt des Stadtverordnetenvorstehers sein kann.

Umso mehr wünsche ich Luca Kissel für seine neue berufliche Herausforderung beim Hessischen Rundfunk viel Erfolg und Freude. Wir brauchen in den Medien Menschen wie Luca Kissel, die engagiert, umsichtig, transparent und neutral agieren. Ich bin sicher, dass er auch dort mit seiner besonnenen Art und seinem Engagement überzeugen wird.“

Die Abschiedsrede von Stadtverordnetenvorsteher Luca Kissel im Wortlaut

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrter Herr Bürgermeister Rendel,

heute steht eine wichtige Sondersitzung an – eine Sitzung, die den Raum und die Aufmerksamkeit verdient, die ihr gebühren. Die Debatten im Vorfeld haben gezeigt, wie sehr dieses Thema die Bürgerinnen und Bürger bewegt. Doch bevor wir in die Beratungen einsteigen, muss ich eine persönliche Entscheidung mit Ihnen teilen.

Ich werde von meinem Amt als Stadtverordnetenvorsteher zurücktreten und mein Mandat niederlegen. Das ist für viele von Ihnen sehr plötzlich, deshalb möchte ich gerne dazu ausführen.

Diese Entscheidung ist eine rein persönliche und freiwillige – und sie ist mir nicht leichtgefallen. Dennoch halte ich sie für notwendig.

Ich habe zu Beginn dieses Monats einen neuen Job als Redaktionsvolontär des Hessischen Rundfunks angetreten. Dort werde ich ab April in redaktionelle Prozesse eingebunden sein. Dies ist für mich ein bedeutender Schritt, auf den ich viele Jahre lang hingearbeitet habe. Da mir Transparenz, Ehrlichkeit und Vertrauen sowohl in der Politik als auch im Journalismus wichtig sind, ist mir bewusst, dass der Übergang in die journalistische Arbeit eine Verantwortung mit sich bringt, die mit einer politischen Funktion nicht vereinbar ist. Um meine journalistische Unabhängigkeit zu wahren, ist es daher notwendig, mein Amt niederzulegen.

Diese Entscheidung ist nicht gegen die Stadtverordnetenversammlung, nicht gegen die Stadt Raunheim oder gegen meine Kolleginnen und Kollegen gerichtet – sie ergibt sich ausschließlich aus meiner neuen beruflichen Orientierung. Es ist eine bewusste Entscheidung für meine berufliche Zukunft und für eine klare Trennung zwischen Journalismus und politischer Verantwortung.

Heute, zu meiner letzten Sitzung, blicke ich zurück auf neun Jahre im Parlament – ein langer und prägender Abschnitt meines Lebens, den ich bereits mit 18 Jahren begonnen habe. Diese Jahre waren für mich nicht nur eine politische, sondern auch eine persönliche Entwicklung. Ich durfte wachsen, Verantwortung übernehmen und lernen, wie kommunalpolitische Arbeit im direkten Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern funktioniert.

Der Beginn meiner Amtszeit als Stadtverordnetenvorsteher im Mai 2023 war ebenfalls ein wichtiger Meilenstein. Mit 26 Jahren wurde mir das Vertrauen geschenkt, dieses Amt zu übernehmen. In dieser Zeit haben wir gemeinsam viel erreicht und bewegt, oft unter schwierigen Bedingungen und mit intensiven Diskussionen.

Die vergangenen zwei Jahre waren von tiefgreifenden Veränderungen geprägt. Bereits zu meinem Amtsantritt spaltete sich die größte Fraktion in zwei, was die Mehrheitsverhältnisse im Parlament neu ordnete. Schon in meiner ersten Sitzung wurde über die Einrichtung eines Akteneinsichtsausschusses diskutiert – ein Thema, das in den folgenden Monaten - ja bis heute - eine zentrale Rolle spielte.

Gleichzeitig stieg das Interesse an und die Dauer unserer Sitzungen erheblich. Während andere Kommunen Sitzungen in Rekordzeit abhielten, an dieser Stelle liebe Grüße zu unseren Nachbarn an Rüsselsheim, die in der letzten Woche 20 Tagesordnungspunkte in 19 Minuten abhielten, waren unsere Debatten intensiv, umfassend und niemals vor 22 Uhr beendet. Ich leitete in den vergangenen zwei Jahren insgesamt 23 Sitzungen – darunter eine, die sich über drei Sitzungstage erstreckte. Konservativ gerechnet kommen wir auf 60 Stunden Stadtverordnetenversammlung, durch die ich Sie führen durfte. Unzählige Stunden der Ausschüsse sind dabei noch nicht einmal eingerechnet.

Erwähnenswert sind auch 2 noch laufende Gerichtsverfahren, in denen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, mich dazu beauftragt haben, gerichtlich gegen zwei Beanstandungen aus dem Sommer 2023 vorzugehen. Dieser Aufgabe komme ich mit der Unterstützung von Frau Rechtsanwältin Stemberg bis heute nach. Ich kann Ihnen versichern, das ist anstrengend, deutlich anstrengender als gedacht. In beiden Klageverfahren wurde unserem Anliegen im Eilverfahren Recht gegeben, auch in der 2. Instanz vor dem Verwaltungsgerichtshof Kassel. Eine mündliche Verhandlung in der Hauptsache steht nächsten Monat an. In dieser Rolle war es mir wichtig, für Transparenz und Gerechtigkeit zu sorgen.

Ich werde alles Nötige dafür in die Wege leiten, dass meine Stellvertreter Herr Becker – dem ich an dieser Stelle gute Besserung wünschen möchte – und Frau Ouariach in dieser Sache nahtlos übernehmen können.

Im Übrigen werde ich den Fraktionen anbieten, ein Forum zu moderieren, in dem über meine Nachfolge verhandelt werden kann. Dieses Amt kann nur mit der breiten Unterstützung aller Abgeordneten ausgeführt werden, deshalb unterstütze ich eine einvernehmliche Lösung.

Hinzu kommen viele weitere wichtige Themen: die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendarbeit, die Schaffung neuer Kita-Plätze, die Verkehrsberuhigung und Neugestaltung des Bahnhofsumfelds sowie Projekte wie das Biodiversitätskonzept und der Waldklimapfad, die mir besonders am Herzen lagen.

Die Hessische Gemeindeordnung schreibt Stadtverordnetenvorstehern vor, ihr Amt neutral auszuüben. Dass dies in der Realität nicht in allen Kommunen gelingt, liegt leider auf der Hand. Doch mir war es stets ein Anliegen, aus einer demokratischen Überzeugung sowie aus meiner Zuneigung zu diesem Parlament und dieser Stadt heraus uneingeschränkt neutral zu agieren. Klingt leicht, doch Neutralität kann natürlich sehr subjektiv sein. Dennoch glaube ich, dass ich diesem Anspruch nach Ihren Rückmeldungen und vielen netten Nachrichten seit Bekanntgabe meines Rücktritts gerecht geworden bin.

Neutralität kann weh tun. Natürlich vertrete ich als Mensch eine Meinung, nur musste ich lernen, diese zurückzustellen. Gegen die Meinung Andersdenkender zu sein, ist einfach. Doch sobald die Neutralität einen Konflikt mit den eigenen Leuten auslöst, wird es erst richtig schwierig. So werde ich es auch als Journalist handhaben: Es ist wichtig, anderen Menschen zuzuhören, sei ihre Meinung aus der eigenen Sicht noch so abstrus. Jeder Mensch hat eigene Hintergründe, Gründe für seine Meinung. Wer einen Diskurs will, wer etwas bewegen will, muss neben der eigenen Meinung auch die anderer ertragen – das macht uns zu Demokraten.

Ein Blick auf die politischen Entwicklungen in unserer Stadt zeigt, dass sich auch oder gerade auch in Raunheim das Wählerverhalten verändert hat. In Raunheim haben erhebliche Teile der Wählerschaft Parteien ihre Stimme gegeben, die nicht zum etablierten Spektrum gehören.

Das hat mich nachdenklich gestimmt und beschäftigt mich bis heute.

Ich frage mich: Woran liegt das? Haben wir Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker es versäumt, alle Bürgerinnen und Bürger mitzunehmen? Wo haben wir nicht ausreichend erklärt, welche Entscheidungen wir treffen und warum? Wo konnten wir Vertrauen nicht ausreichend aufbauen?

Auch wenn es leicht fällt, die Ursachen auf „die da oben“ zu schieben, dürfen wir diese Fragen nicht einfach beiseite schieben. Sie erfordern eine ehrliche Auseinandersetzung mit unserer politischen Arbeit. Denn wenn sich viele Menschen von den bisherigen politischen Kräften abwenden, müssen wir uns fragen, wo wir besser werden können: Wie gestalten wir politische Prozesse transparenter? Wie können wir den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern intensivieren? Wie schaffen wir es, Politik nahbar und nachvollziehbar zu machen?

Ich bin überzeugt: Der beste Weg, um Vertrauen in politische Institutionen zu stärken, ist nicht allein Empörung oder Kritik, sondern eine Politik, die greifbare Lösungen bietet und die Menschen mitnimmt. Das bedeutet für uns Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker konkret:

  • Mehr Transparenz: Entscheidungen verständlicher und nachvollziehbarer machen.
  • Mehr Bürgernähe: Zuhören, Sorgen ernst nehmen und den direkten Austausch suchen.
  • Mehr faktenbasierte Debatten: Unsere Diskussionen müssen sich auf belegbare Zahlen und nachvollziehbare Argumente stützen. Nur so können wir schwierige Entscheidungen fundiert treffen.
  • Verständnis für notwendige Entscheidungen schaffen: Manche Beschlüsse werden nicht auf sofortige Zustimmung stoßen, weil sie zunächst als Einschränkung wahrgenommen werden. Doch oft sind es genau diese Entscheidungen, die langfristig notwendig und richtig sind. Wenn wir offen kommunizieren und transparent begründen, warum wir handeln, können wir mehr Verständnis und Akzeptanz erreichen – auch für unbequeme, aber unvermeidbare Maßnahmen.

Neutralität bedeutet auch, dass meine Fraktion aushalten muss, wenn ich einen ehemaligen Kanzler der SPD, Willy Brandt, zitiere. Er sagte einmal: „Wir sind keine Erwählten, wir sind Gewählte. Deshalb suchen wir das Gespräch mit allen, die sich um diese Demokratie bemühen.“

Diesen Grundsatz habe ich stets als Leitmotiv meines politischen Handelns verstanden. Politik lebt vom Dialog – von der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Perspektiven, von der gemeinsamen Suche nach den besten Lösungen.

Nun, am Ende meiner Amtszeit, möchte ich mich direkt an Sie, die Bürgerinnen und Bürger, wenden:

Hier im Raum sitzen engagierte und ehrenwerte Menschen. Menschen, die sich in ihrer Freizeit ehrenamtlich für unsere Stadt einsetzen, sich durch hunderte Seiten an Vorlagen arbeiten und ernsthaft darum ringen, was das Beste für Raunheim ist. Verwechseln Sie diese Menschen nicht mit den Politikern, die täglich durch die Medien wandern. Stadtverordnete haben keine PR-Berater, keine Redenschreiber, keine Social-Media-Agenten. Ihr Rückhalt sind ihre Familien und ihr soziales Umfeld – sie sind es, die die Belastungen dieses Ehrenamts mittragen.

Deshalb appelliere ich an Sie alle: Gehen Sie respektvoll mit denen um, die sich hier engagieren. Wer kein Profi ist, kann sich verhaspeln, kann einmal einen Termin verpassen, kann sich irren – und hat oft noch ganz andere Baustellen im Leben, sei es beruflich oder familiär. Doch all das mindert nicht den Wert dieses Engagements – im Gegenteil. Demokratie lebt davon, dass Menschen mit Herzblut Verantwortung übernehmen.

Zum Abschluss möchte ich Danke sagen:

  • Danke an Sie, Herr Bürgermeister Rendel, für die Zusammenarbeit, die offenen Gespräche und die gemeinsamen Debatten. Auch wenn wir nicht immer einer Meinung waren, war unser Austausch stets von Respekt geprägt. Für diese Zusammenarbeit danke ich Ihnen aufrichtig.
  • Danke an meine Kolleginnen und Kollegen in der Stadtverordnetenversammlung. Sie haben mir mit 26 Jahren das Vertrauen geschenkt, dieses Amt auszuüben – eine große Verantwortung, für die ich sehr dankbar bin. Ich durfte Erfahrungen sammeln, die in meinem Alter nahezu einzigartig sind. Ein besonderer Dank gilt meiner Fraktion, die bei jeder Entscheidung stets hinter mir stand, auch wenn sie sich gegen die CDU richtete. Das ist nicht selbstverständlich, sollte aber die Basis aller hier vertretenen Fraktionen für die Zukunft sein.
  • Danke an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung, die jeden Tag die Grundlagen dafür schaffen, dass politische Entscheidungen umgesetzt werden können. Und ein besonderer Dank gilt dem Team vom Sitzungsdienst, persönlich erwähnen möchte ich Frau Tepetzi, ohne die wir nicht so reibungslos tagen könnten, wie wir es tun.
  • Danke an die Bürgerinnen und Bürger von Raunheim. Ihre Anregungen, Ihre Kritik, Ihr Engagement haben meine Arbeit geprägt.

Besonders möchte ich alle Vereine und Religionsgemeinschaften erwähnen, die mir so herzlich gezeigt haben, wie divers Raunheim ist.

Laut dem Sozialmonitor 2022 des Kreises Groß-Gerau haben 70 Prozent unserer Einwohnerinnen und Einwohner einen Migrationshintergrund – und diese Vielfalt spiegelt sich auch in unserem Vereinsleben wider. Ob beim Türkischen Kultur- und Bildungsverein oder dem Marokkanischen Freundeskreis, bei der Ahmadiyya-Gemeinde oder in der katholischen und evangelischen Kirche, wo ich regelmäßig zur Jugendarbeit eingeladen wurde: Überall bin ich auf Offenheit und Gastfreundschaft gestoßen. Das Gleiche gilt für unsere Sportvereine wie den SV 07, die SSV oder die Schützen sowie unsere Fastnachtsvereine CCR und PMG. Auch das Engagement von Vereinen wie „Tun - Toleranz unter Nationen“ und vielen weiteren hat mich beeindruckt.

All das hat meinen Blick auf die Welt und vor allem auf Raunheim geprägt. Trotz unterschiedlicher kultureller und religiöser Hintergründe sind wir in erster Linie Raunheimerinnen und Raunheimer, und diese Gemeinsamkeit eint uns. Ich bedanke mich von Herzen für diese Erfahrungen.

Dieser Abschied ist kein Rückzug aus der Verantwortung. Ich werde Raunheim und seiner Entwicklung eng verbunden bleiben – nur eben in einer anderen Rolle.

Erlauben Sie mir eine Anmerkung aus Sicht meiner zukünftigen Rolle als unabhängiger Journalist:

Wir haben in Raunheim erlebt, wie gefährlich es sein kann, wenn Fehlinformationen sich ungehindert verbreiten – insbesondere über anonyme Social-Media-Profile, die gezielt falsche Behauptungen streuen. Damit meine ich ausdrücklich nicht jede anonyme Stimme oder Quelle, sondern gezielt jene, die Politik und Gesellschaft manipulieren wollen.

Ebenso darf Journalismus nicht dazu benutzt werden, um politische Interessen zu bedienen oder Debatten gezielt in eine bestimmte Richtung zu lenken. Er muss unabhängig bleiben. Genau dafür möchte ich mich in Zukunft einsetzen.

Mein Appell an Sie alle: Führen Sie die politische Arbeit mit demselben Engagement fort. Halten Sie die Demokratie lebendig. Bleiben Sie im Gespräch mit den Menschen. Lassen Sie sich nicht entmutigen – weder durch Anfeindungen noch durch populistische Strömungen.

Zum Schluss noch ein persönliches Anliegen:

Am kommenden Sonntag ist Bundestagswahl. Bitte nehmen Sie Ihr demokratisches Recht wahr und gehen Sie wählen! Jede Stimme zählt, um die Zukunft unserer Gesellschaft und unseres Landes mitzugestalten.

Ich danke Ihnen für die gemeinsame Zeit, für Ihr Vertrauen und Ihre Unterstützung.

Raunheim ist und bleibt eine Stadt mit Zukunft. Ich wünsche Ihnen allen und unserer Stadt das Beste.

Herzlichen Dank.