In den regionalen Medien wurde kürzlich von einem Fall berichtet, den man so im 21. Jahrhundert nicht für möglich gehalten hätte: Ein Ehepaar im saarländischen Schmelz hat die siebenjährige Tochter über drei Monate lang nachts in einen Hundekäfig eingesperrt. weil der 34-jährige Stiefvater „sich gestört fühlte und einen ruhigen Abend verbringen wollte“. Das Mädchen wurde zusätzlich mit Kabelbindern gefesselt. Das Kind, das auch tagsüber gequält worden sei, sei „schlechter behandelt worden als ein Hund“, so der Richter in seiner Urteilsbegründung. Das Landgericht Saarbrücken hat den Stiefvater am 10. März zu fünf Jahren und einem Monat Gefängnis verurteilt; die Mutter wurde aufgrund eines psychiatrischen Gutachtens wegen verminderter Schuldfähigkeit freigesprochen.1
Im ausgehenden 19. Jahrhundert geht ein ähnlicher Fall im ganzen Deutschen Reich durch die Presse, der sich im Hochwald, nämlich in Naurath/Wald abgespielt hat. Zuerst berichtet die Kölnische Zeitung am 8. März 18962:
Trier, 6. März Schon wieder beschäftigte ein Aufsehen erregender Proceß die hiesigen Gerichte. Vor der Strafkammer stand der Ackerer Peter L.3 und dessen Ehefrau aus Naurath im Hochwald unter der schweren Anklage, ihre 33jährige Tochter widerrechtlich in einem Bretterverschlag längere Zeit eingesperrt zu haben.
Im Jahre 1887 traten bei dem früher gesunden und geistig sehr entwickelten Mädchen Zeichen von Geistesstörung zutage. Als sich diese Erscheinungen, die zeitweise in Tobsucht ausarteten, mehrten, sperrten die Eltern das unglückliche Geschöpf in ein Zimmer, dessen Fenster sie mit Latten verschlugen. Dort hörten die Nachbarn die Unglückliche häufig lachen, weinen, singen; bald aber hörte und sah man von ihr gar nichts mehr, und nur durch Zufall kam man endlich auf das Versteck der Bedauernswerten.
Der jüngere Bruder des Mädchens hatte einen Beinbruch erlitten. Zur Erlangung einer Rente seitens der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft wurde im Beisein des Bürgermeisters von dem Districtsarzt Dr. Dosing aus Hermeskeil eine Untersuchung des Beschädigten vorgenommen und bei dieser Gelegenheit fragte der erstere auch nach der Geisteskranken. Infolge ausweichender Antworten der Eltern verlangte man nunmehr in bestimmter Weise den Aufenthaltsort der Tochter zu wissen. Die Mutter führte die beiden Herren auf den Speicher.
Hier bot sich ihnen ein entsetzlicher Anblick: in einem engen, dunkeln Bretterverschlag von 1,80m Länge, 1,10m Breite und 1,24m Höhe befand sich ein nur mit einem Hemd bekleidetes Wesen. Ein Haufe durchfaulten Strohs bildete das Lager der Armen. Ein furchtbarer Geruch entströmte diesem entsetzlichen Gefängnisse. Das Mädchen, das halb erblindet heraustaumelte, war als menschliches Wesen kaum zu erkennen. Verletzungen hatte es nicht, ein Beweis, daß es nicht, wie die Eltern behaupteten, tobsüchtig war. Das geizige, sehr wohlhabende Ehepaar, hatte nur die Kosten gescheut, ihre Tochter in der Irrenanstalt zu Merzig unterzubringen.
Der Staatsanwalt beantragte gegen die Angeklagten eine Geldbuße von je 800 M, damit dieselben, da niedriger Geiz der Beweggrund ihrer elenden Handlungsweise war, die That auch mit Geld sühnten. Das Urteil lautete nur für den Mann auf 300 M, für die Frau auf 150 M Geldbuße4.
Vor dem Gerichtsgebäude wurde das unnatürliche Elternpaar von einer großen Menge erwartet, die an den beiden Volksjustiz zu üben drohten, sodaß sie schleunigst die Stadt verlassen mußten.
Ob die Eltern heutzutage so glimpflich davongekommen wären, darf in Anbetracht des eingangs genannten Saarbrücker Urteils bezweifelt werden. (WIL-)
1 Saarländischer Rundfunk, www.sr.de/sr/home/nachrichten/panorama/urteil_prozess_ehepaar_tochter_kaefig_gehalten_100.html (abgerufen am 11.03.2023)
2 Der Bericht erscheint in den folgenden Tagen auch im „Leipziger Tageblatt“, in der „Bürger-Zeitung“ (Düsseldorf), im „Elbeblatt“ des „Riesaer Tageblatts“ und im „Düsseldorfer Volksblatt“.
3 In dem Bericht ist der Name vollständig genannt. Seinerzeit lagen Begriffe wie „Datenschutz“ und „Persönlichkeitsrecht“ noch in weiter Ferne.
4 1 Mark hatte 1896 eine Kaufkraft von umgerechnet 8 Euro (s. Kaufkraftäquivalente historischer Beträge in deutschen Währungen, Deutsche Bundesbank). Die Strafe belief sich somit auf umgerechnet 2.400 Euro für den Mann und 1.200 Euro für die Frau.