Der ausgestreckte Mittelfinger ist in weiten Kreisen der Bevölkerung fast schon „salonfähig“ geworden. Nichtsdestoweniger ist diese Geste, die ja gebraucht wird, um einen anderen herabzuwürdigen, unter juristischen Gesichtspunkten eine Beleidigung und damit eine Straftat. Das muss auch der 60-Jährige aus einem Hochwalddorf erfahren, der diesmal neben seinem Verteidiger auf der Anklagebank sitzt.
Er hat es an diesem Tag eilig gehabt, ist spät dran gewesen und wollte den über 40 km entfernten Arbeitsplatz rechtzeitig erreichen. Außerdem leidet er, wie er erzählt, chronisch an Rheuma und einem Tinnitus. „Das ist eine Dauerbelastung“, sagt er. Und sowas erzeugt an sich ja schon Stress genug. Als er mit seinem Pkw an die Hauptstraße kommt, stehen dort zwei Busse an den einander gegenüber liegenden Haltestellen und es gibt kein Durchkommen. So fährt er einen kleinen Umweg, über den er auch auf die Hauptstraße gelangt. Dort angekommen, huscht er gerade so noch vor den Bus, der inzwischen losgefahren ist; viel Zeit hat er also nicht gewonnen. Doch das gefällt dem Busfahrer keineswegs, der nun mehrmals hupt und die Lichthupe betätigt. „Der musste gar nicht bremsen, denn da ist eine Tempo 30-Zone“ erklärt der Angeklagte, der dem anderen in dieser Situation spontan den besagten Mittelfinger zeigt. Als der Busfahrer nicht aufhört zu (licht)hupen, verlangsamt der Mann nun seine Fahrt und hält schließlich an. „Ich wollte ihn fragen, was das soll“, sagt er. Er sei auf ihn zugegangen, doch der habe ihn durch das offene Fenster im Bus nur wüst beschimpft und gebrüllt, er werde ihn anzeigen. Und so sitzt er heute hier, aber nicht nur wegen Beleidigung, sondern auch noch, weil er den Busfahrer zum Anhalten genötigt hat. Und Nötigung im Straßenverkehr führt normalerweise nicht nur zu einer Geldstrafe, sondern in der Regel auch zu einem Fahrverbot von einem bis drei Monaten. Gegen den Strafbefehl über 30 Tagessätze zu 100 Euro und das darin ausgesprochene Fahrverbot hat er Einspruch eingelegt und es wird schnell klar, dass es ihm eigentlich nur darum geht, dieses aus der Welt zu schaffen.
„Mein Mandant hat keine Chance, ohne Auto zur Arbeit zu kommen“, gibt der Verteidiger zu bedenken. Eine direkte Verbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln gibt es nicht und im Dorf bzw. im Umkreis wohnt auch kein Kollege. Familienangehörige oder Freunde, die ihn eventuell bringen könnten, gehen auch alle arbeiten und ihre Arbeitszeiten sind mit seinem Wechselschichtdienst nicht kompatibel. Der Anwalt fährt fort: „Wir haben Beleidigung und Nötigung, das müssen wir nicht weiter diskutieren“ und weist darauf hin, sein Mandant sei bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten. „Er ist ein braver Bürger, der seine Steuern zahlt“, sagt er. Der Angeklagte ergänzt, er sei seit mehr als 40 Jahren in der Freiwilligen Feuerwehr und seit Jahrzehnten auch als Kommunalpolitiker tätig, wo er - da könne man den Bürgermeister fragen - stets auf Ausgleich bedacht sei. Seit 40 Jahren fahre er auch schon Auto, ohne dass er sich etwas zu Schulden habe kommen lassen. „Es ist halt passiert, ich hab mich erschrocken“, sagt er und „Es tut mir leid, aber ich kann es ja nicht rückgängig machen.“ Wenn die Geldstrafe so belassen werde, aber das Fahrverbot wegfalle, sei für ihn die Sache erledigt, erklärt der Verteidiger, und die Amtsanwältin, die die Anklage vertritt, signalisiert ihre Zustimmung.
Richterin Buchenberger lässt ebenfalls Gnade vor Recht ergehen und entscheidet in diesem Sinne. Für eine Beleidigung gebe es normalerweise kein Fahrverbot, wohl aber für eine Nötigung. „Aber es war nicht unbedingt der schlimmste Fall, weil Sie ja langsam unterwegs waren“, sagt sie und meint, man könne im Hinblick auf die relativ hohe Geldstrafe von einem Fahrverbot absehen, weil es im konkreten Fall beim Angeklagten zu unverhältnismäßig starken Einschränkungen geführt hätte. Das Urteil wird sofort rechtskräftig, weil Anklägerin und Angeklagter erklären, auf ein Rechtsmittel zu verzichten. (WIL-)