Am 28. November 2023 um 19.00 Uhr findet in der Stadtbücherei Hermeskeil zum Projektauftakt des Fördervereins Gedenkstätte Hinzert eine Lesung mit Heinz Ganz-Ohlig mit dem Thema „Juden im Gaumusterdorf – Spuren Jüdischer Nachbarn in Hermeskeil sichtbar machen“ von und mit Tamara Breitbach und Georg Mertes statt.
Zu diesem Thema erreichte die Redaktion folgender Brief von Andrea Kolling aus Bremen, die gebürtige Hermeskeilerin ist und bis zum 16. Lebensjahr hier gelebt hat:
Die Ängste meiner Mutter und die Reichspogromnacht 1938 in Hermeskeil
Meine Mutter habe ich immer als eine eher ängstliche Person erlebt, jedenfalls außerhalb familiärer Strukturen. Als Jugendliche fand ich das schwach, zu angepasst. Ich habe sie heftig von meinem hohen demokratischen Ross dafür kritisiert. Hintergrund war insbesondere ihre Erzählung über die Reichspogromnacht 1938. Als die SA ihren Aussagen zufolge nachts nebenan die laut schreienden jüdischen Frauen durchs Haus jagten. Mein arrogantes, aber überzeugtes Statement war immer: Warum habt ihr den Frauen denn nicht geholfen? Die Antwort meiner Mutter: Was hätten wir Frauen denn tun sollen? Das wollte ich als überzeugte Feministin nicht gelten lassen. Auf die Frage was mit den Frauen nach dem 9.November passiert sei, konnte und/oder wollte mir meine Mutter keine Antwort geben. Scham ist mit die größte Empfindung. Denn ich wusste, es war ihre Befürchtung, dass die Nachbarinnen ins KZ gekommen sind. Was auch passiert ist. Meine Mutter war im November 1938 14 Jahre alt und lebte mit ihrer Mutter und zwei Tanten im Nachbarhaus. Sie starb 1999. Später erfuhr ich, dass es vermutlich doch einer Person – Helene Samuel (?) gelang aus einem Hausüber einen Hinterausgang und Gang zu den nachbarn fliehen, musste aber anschließend ins „Judenhaus“ nach Trier, wurde nach Theresienstadt deportiert und später in Ausschwitz ermordet.
Heute werden weltweit Fotos von Gräueltaten in Echtzeit im Internet verbreitet. Meine Mutter hatte erst in den 50iger Jahren, als ich Kind war, eine Kamera. Mit dieser Kamera wäre es nicht möglich gewesen nächtliche Aufnahmen zu machen. Dazu wäre es undenkbar gewesen derartige Schandtaten fotografisch festzuhalten. Von der Zerstörung, die am nächsten Tag in Hermeskeil großflächig sichtbar wurde, gibt es scheinbar auch keine Fotos, auch wenn der ortsansässige Fotograf sicherlich nicht als Einziger eine Kamera besaß. Meine Mutter berichtete, dass sie am nächsten Tag auf dem Weg zur Kirche mit ihrer Mutter vor dem jüdischen Kaufhaus Bonem, später Wickbold, heute Modehaus Astor, uniformierte SA Männer patrouillierten und die beiden entsetzten Frauen, ob der zerstörten Schaufensterscheiben, der vermutlich geplünderten Ware und den auf der Straße liegenden zerbrochenen Schaufensterpuppen, anfuhren: „Geht ihr nur in die Kirche und seid froh, dass es nur Puppen sind, keine Menschen. Denkt daran nach den Juden kommen die Katholiken.“ Für meine Mutter tief prägend in ihrer Adoleszenz.
Ich habe das Privileg demokratisch aufgewachsen und sozialisiert worden zu sein, ohne Gewalt, Faschismus und Krieg. Ohne Angst vor undemokratischen Ambitionen eines Faschisten Björn Höcke und seiner mittlerweile weit verbreiteten Anhänger. Doch heute kann ich die prägenden Befürchtungen meiner Mutter vor 85 Jahren mit ihren damals 14 Jahren das erste Mal etwas nachempfinden. Wer waren die SA Männer von damals? Wer hat alles weg gesehen und sich gleich oder später bereichert? Man rühmte sich, dass Hermeskeil bereits 1938 „judenfrei“ war. Das jüdische Leben war in Hermeskeil zerstört. Wer half? Wer profitierte? Das Nachbarhaus meiner Mutter konnten Nazis von der Gemeinde erwerben und haben es später über die JRSO (Jewish Restitution Successsor Organisation) erneut bezahlt. Sie blieben dort wohnen. Ich kannte sie noch. Meine Mutter hat, glaube ich kein persönliches Wort mehr mit den „Ex“-Nazis ihr Leben lang gesprochen.
Wie sehr fast alle Häuser in der näheren und direkten Nachbarschaft meines Elternhauses im Hermeskeiler Zentrum vor der Reichspogromnacht 1938 von jüdischen Mitbürgern bewohnt, dann von Nazis okkupiert und beschlagnahmt wurden, wurde mir erst sehr viel später klar, zumal meine Mutter höchst zurückhaltendend ab und an beim Mittagessen beiläufig meinte: Ja, das war auch so ein alter Nazi. Mein Vater: Ja, ein 150%iger. Er meinte die strammen Ideologen und Parteisoldaten. Heute lebt keiner mehr. Die Häuser blieben im Familienbesitz oder wurden weiterverkauft.
Heute erinnern noch nicht einmal Stolpersteine an die ehemaligen jüdischen Bewohner/Innen. Heute hätte meine Mutter vermutlich wieder Befürchtungen vor den Nazi-Schergen, ihrer groben Gewalt, ihrer Heuchelei, ihrem Machtstreben, dem Gerede eines Gaulands vom „Fliegenschiss“ der Geschichte über die Nazi-Barbarei. Gruselig die 67,5% Wähler rechts der Mitte in der jüngsten bayerischen Landtagswahl. Widerwärtig das antisemitische Flugblatt in der Tasche eines 17jährigen und heute alten, neuen, dazu gestärkten Vize-Ministerpräsidenten Eywanger in Bayern. Dagegen hatte meine Mutter schon mit 14 Jahren einen eindeutigen Kompass. In ihrem Eltern-, Mutterhaus fühlte sie sich sicher, was nicht überall und jedem gegeben war und ist. Immerhin heißt die Reichspogromnacht heute nicht mehr verharmlosend Reichskristallnacht. Ich stellte mir als Kind dabei einen großen glitzernden Kristallleuchter vor. Keine ungestraften orchestrierten Mordnächte. „November-Pogrome“ wäre vielleicht die treffendere Bezeichnung. Mir bleibt die mütterliche Erzählung und die verbrecherischen Handlungen vor 85 Jahren nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Wünschenswert bleiben engagierte Initiativen auch seitens der heutigen Hauseigentümer zur Verlegung von Stolpersteienen (Andrea Kolling 09.11.2023)