Es ist der zweite Versuch, einem notorischen Straftäter den Prozess zu machen. Das erste Verfahren ist gescheitert, weil Zeugen fehlten und nicht aufzutreiben waren. Die Verhandlung muss deshalb wieder ganz von vorne anfangen. Angeklagt ist ein Mann um die 50, der seit fast 30 Jahren eine ganze Latte von Straftaten begangen hat. Würde man – wie es früher üblich war – für jede Tat eine Kerbe in ein Holz ritzen, müsste sein Kerbholz ziemlich lang sein. Insgesamt 26 Vorstrafen verliest Richterin Buchenberger, angefangen mit Verkehrsgefährdung und Unfallflucht über Alkohol im Verkehr, Körperverletzung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte bis hin zu Volksverhetzung und Missbrauch von Notrufen. Am häufigsten tauchen aber die Vokabeln „Bedrohung“ und „Beleidigung“ auf; und darum geht es auch heute wieder. Einige Jahre seines Lebens hat er schon hinter Gittern verbracht, genützt hat es wenig. Zum letzten Mal ist er 2019 zu einem Jahr und neun Monaten verurteilt worden. Bewährung hat er damals nur deshalb noch bekommen, weil er einen Entzug gemacht hatte und sich damals einigermaßen gemäßigt gegeben hat. Doch auch heute sitzt wie in früheren Verhandlungen ein Justizwachtmeister mit im Saal – für alle Fälle.
Der Erfolg des Entzugs war nicht von Dauer, denn vor zwei Jahren ist er unter Alkoholeinfluss – und noch unter laufender Bewährung – zum wiederholten Mal ausfällig geworden und hat einen anderen im Treppenhaus eines Mietshauses über mehrere Etagen hinweg beleidigt und bedroht. Das steht ziemlich fest, denn der andere hat es aus sicherer Entfernung mit seinem Handy aufgenommen, obwohl er als Ausländer, der der deutschen Sprache nur wenig mächtig ist, überhaupt nicht verstanden hat, was der Angeklagte gesagt hat. Doch wie heißt es so schön: Der Ton macht die Musik. Es ist auch noch eine andere Mieterin dabei gewesen, die alles gehört und auch verstanden hat, weil sie Deutsche ist – Pech für den Angeklagten. Es muss noch erwähnt werden, dass die Aufnahme später bei der Polizei im Rahmen eines „Bereinigungslaufes“ gelöscht worden ist.
Die Probleme des Mannes sind – trotz Entzug – der Alkohol und eine dauerhafte Unzufriedenheit. So steht es im Bericht des Bewährungshelfers, der ihm aber durchaus bescheinigt, dass er mit ihm zusammenarbeitet. Hinzu kommt inzwischen, dass er gesundheitlich angeschlagen ist.
Der Staatsanwalt sieht die Anklagevorwürfe voll bestätigt. Das Opfer den beleidigenden Charakter der Aussagen des Angeklagten verstanden, auch wenn er die Worte nicht gekannt habe. Die habe er sich hinterher übersetzen lassen. Es gebe auch kein Verwertungsverbot für die Aufnahme, weil damit eine Straftat aufgenommen worden sei. Wegen der zahlreichen einschlägigen Vorstrafen und weil die Tat unter laufender Bewährung begangen worden sei, fordert er eine Freiheitsstrafe von sieben Monaten ohne Bewährung,
Die Pflichtverteidigerin versucht ihr Bestes, das Gericht vom Gegenteil zu überzeugen. Sie habe mehrmals vergeblich versucht, dem Zeugen zu entlocken, dass er die Beleidigungen verstanden habe. Das habe er aber ebenso wenig wie was er bei der Polizei unterschrieben habe. Dem Staatsanwalt wirft sie vor, zum Thema Verwertungsverbot nicht ins Gesetz geschaut zu haben. Außerdem existiere die Aufnahme ja nicht mehr und könne schon von daher vom Gericht nicht als Beweismittel gewürdigt werden. Sie beantragt deshalb, den Angeklagten freizusprechen.
Richterin Buchenberger sieht dagegen die Beleidigung als klar bewiesen an. Es habe Zeugen gegeben, die die Aufnahme gehört hätten. Deren Aussage reiche deshalb aus; das sei ihrer Ansicht nach kein Verstoß gegen das Unmittelbarkeitsprinzip. Ob das Opfer die Beleidigungen verstanden habe, sei unerheblich, denn es sei auch strafbar, wenn man jemanden gegenüber Dritten beleidige. Ein Verwertungsverbot gebe es nicht, wenn Aufnahmen zur Dokumentation einer Straftat gemacht würden. Sie verurteilt den Angeklagte zu sieben Monaten auf Bewährung „mit einem Strauß von Auflagen“, wie sie sagt: Er muss fünf Jahre lang straf- und alkoholfrei leben; Letzteres muss er durch regelmäßige Abgabe von Urinproben nachweisen. Außerdem muss er eine Geldbuße von 500 Euro an „Brot für die Welt“ (in monatlichen Raten) zahlen. Seit der Tat sei er nicht mehr aufgefallen und nach Angabe des Bewährungshelfers auch „aufgeschlossener geworden“, weshalb sie ihm trotz allem doch noch eine positive Prognose ausstellt.