Von Rainer Maria Rilke, einem der bedeutendsten Dichter des beginnenden 20. Jahrhunderts, wird folgende Anekdote berichtet:
Rilke war mit einer jungen Französin in Paris unterwegs. An einem Platz der Stadt begegneten sie einer Bettlerin, die dort saß, um ein wenig Geld zu erbetteln.
Ohne die Passanten anzuschauen, streckte sie nur wortlos die Hand aus, um ein paar Münzen zu erhalten.
Immer, wenn Rilke hier vorbei ging, saß die Frau dort. Er selbst gab ihr nie etwas. Die Begleiterin fragte ihn, warum er nie etwas gebe. Rilke erwiderte: „Wir müssen ihrem Herzen schenken, nicht der Hand.“
Einige Tage später brachte Rilke eine soeben aufgeblühte weiße Rose mit und legte sie der Bettlerin in die abgearbeitete Hand.
Und nun geschah das unerwartete: die Alte hob den Blick. Sie stand auf und fasste die Hand des Gebers um sie zu küssen. Dann ging sie weg. Eine Woche lang wurde sie nicht mehr gesehen.
Nach acht Tagen saß die Bettlerin plötzlich wieder an ihrem Platz, um zu betteln.
Sie war stumm wie damals. „Ich frage mich, wovon sie die vergangene Woche gelebt hat, fragte die junge Frau den Dichter. Rilke antwortete ihr: „Von der Rose!“ (Quelle: Internet)
Danach gefragt, was das Schönste an Weihnachten sei, antworten Kinder (und manchmal bestimmt auch Erwachsene): „Die Geschenke!“
Aber selbst hinter den materiellen Geschenken steht noch viel mehr: unsere tiefsten Sehnsüchte und Herzenswünsche.
Weihnachten ist das Fest der Familie, nicht unbedingt die Verherrlichung eines alten Familienbildes, sondern die tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit und Sicherheit.
Weihnachten ist das Fest des Friedens und der Harmonie. Es ist nicht unbedingt das zuckersüße Idyll, von dem wir träumen. Vielleicht reicht es schon, wenn Hände gereicht werden und Konflikte sich beruhigen, wenn Not gelindert wird durch die Lieferung von Überlebensmitteln, z.B. in die Ukraine oder in andere Krisengebiete. In diesem Winter zeigt es sich, dass vielleicht nicht die Lieferung von Waffen das Wesentliche ist, sondern die Lieferung von Generatoren, medizinischer Ausrüstung und Lebensmittel.
Weihnachten ist das Fest der Sehnsucht nach menschlicher Wärme. Vielleicht wird uns das neu bewusst gemacht durch die kaum noch geheizten Kirchen. Es zeigt sich nun, ob die menschliche Wärme, die wir in unseren Kirchen erleben, die äußerliche Kälte ein wenig aufwiegt. Die Aktion unserer Pfarrei #wärmeort gesucht möchte darauf aufmerksam machen. Und es gibt solche Wärmeorte in unseren Dörfern und Gemeinden: Es gibt Vereine, in denen sich Menschen gleicher Interessen treffen können. Es gibt Institutionen, die für Menschen da sind und ihnen das Gefühl des Beachtet-seins schenken:
• die Tafel für bedürftige Menschen: ein Ort, an dem ganz konkrete Unterstützung erfahren wird und, hoffentlich, in so manchem Gespräch auch ein wenig menschliche Wärme.
• unsere Kindergärten: für Kinder und deren Familien ein wichtiger Unterstützungsort, an dem Kinder die menschliche Wärme erfahren, die sie für ihre Entwicklung benötigen.
• das Familiennetzwerk „Hafen“ mit all seinen Kooperationspartnern:
• das Gemeindepsychiatrische Betreuungszentrum am Bahnhof
• der AWO-Betreuungsverein
• das Ambulante Hospiz Hochwald mit seinen Angeboten (z.B. Trauercafé) und viele andere mehr.
Ganz bewusst möchte ich hier nicht nur die kirchlichen Wärmeorte einbeziehen.
Alle diese Orte schenken nicht nur mit der Hand, sondern immer auch mit dem Herzen – durch Achtung, Wohlwollen und menschlichen Respekt. Von all diesen Wärmeorten geht für die Menschen, die sie in Anspruch nehmen, etwas aus, das ihnen deutlich macht: du bist nicht allein. Du musst mit den Fragen und Problemen, die dich beschäftigen, nicht alleine klarkommen. Es ist jemand da, der mitgeht und begleitet, einer, der versteht.
Einen solchen Wärmeort erleben wir an Weihnachten ganz besonders: die Krippe mit dem Jesuskind. Gott hat uns das große Geschenk gemacht, die Rose, die wächst aus dem Baumstumpf Isais. Jesus, das kleine Kind. Der große Gott, der sich in diesem Kind so klein gemacht hat, dass jeder zu ihm Zugang finden kann.
In diesem Kind in der Krippe ist die Liebe Gottes in die Welt gekommen. Wo immer Menschen sich an dieser Liebe orientieren und sie in ihrem Leben wirksam werden lassen, da entstehen Wärmeorte – Orte der Menschlichkeit.
Diese Wärmeorte entstehen als Reaktion auf die Kälte der Welt. In den 70er Jahren hörte ich zum ersten Mal den Slogan „Christen sind Protestleute gegen den Tod“. Wer Christ ist, also das Kind in der Krippe im eigenen Herzen zur Welt kommen lässt, der kann sich nicht abfinden mit den vielen Toden dieser Welt. Er kann sich nicht abfinden mit Unrecht, Respektlosigkeit gegenüber Mensch und Natur, er kann nicht ruhig bleiben, wenn Menschen in sozialer Kälte innerlich erfrieren.
Und das ist auch eine der wesentlichen Elemente in unserer Kirche: sie muss für das Leben eintreten, muss selbst zu einem Wärmeort werden, der den Menschen hilft zu leben. Daher leide auch ich darunter, wenn unsere Kirche zu einem Kälteort wird, zu einem Ort, der keine menschliche Wärme mehr ausstrahlt und den Menschen nicht dient. Diese menschliche Wärme kann und sollte es auch dann geben, wenn die äußeren Temperaturen wegen der Energiekrise niedrig sind.
Eine Kirche, die nicht dient, die dient zu nichts.“ Hat einmal der französische Bischof Jacques Gaillot gesagt. Deshalb bin ich vor zwanzig Jahren Diakon geworden, weil ich gewissermaßen amtlich für eine solche dienende Kirche stehen wollte.
Weihnachten kann nicht untergehen, denn es spricht unsere tiefste Sehnsucht an, die Sehnsucht nach Zuwendung und Liebe, die Sehnsucht nach Geborgenheit.
Das Weihnachtsfest selbst kann solch ein Wärmeort sein (tragischerweise manchmal auch ein Kälteort, weil die Kälte an diesem emotionsgeladenen Fest viel stärker erfahren werden kann).
Gott selbst, so ist unser Glaube, ist in diesem Kind zur Welt gekommen. Er selbst wollte den Menschen nahe sein, ihnen deutlich machen: ich bin der Gott, der da ist. Wer zu mir kommt, der kann selbst mehr Mensch werden.
So wünsche ich Ihnen allen – auch im Namen unseres Pfarrhausteams – dass das Weihnachtsfest für Sie zu einem echten Wärmeort wird. Zum Weihnachtsfest und zum Start in das Neue Jahr 2023 wünsche ich Ihnen allen Gottes Segen.
Andreas Webel, Diakon